Chaosprinz Band 2
anregend, man schafft es einfach nicht, die Augen abzuwenden und könnte wohl Stunden damit verbringen, es anzuschauen und zu analysieren. Analysieren und diskutieren… zum Beispiel in der Schule… im Kunstunterricht… Ich schrecke auf und drehe mich hektisch zu Herrn Wesser um.
»Wir haben in der Schule die Aufgabe, unbekannte Künstler aus der Region vorzustellen und ihre Werke zu präsentieren. So mit Analysen und Diskussionen und so. Würden Sie…?« Ich werde rot und kratze mich unsicher am Kopf.
»Ich? Oh, ich weiß nicht…« Er zuckt die Schultern.
»Sie müssten nicht extra in den Unterricht kommen, es reicht, wenn ich eine Art Interview mit Ihnen mache. Wir sprechen ein bisschen über Ihre Arbeit, wie Sie zur Malerei gekommen sind, wo Sie Ihre Inspiration und Motive hernehmen und so weiter. Dann werde ich eines Ihrer Bilder meinen Mitschülern präsentieren.«
Er überlegt. »Ich glaube nicht, dass ich so wahnsinnig spannende Sachen zu erzählen habe«, meint er vorsichtig.
»Aber Sie waren doch Galerist in New York…«
»Eine sehr kleine Galerie für ein alternatives Publikum.«
»Ich finde das faszinierend. Bitte überlegen Sie es sich.«
»Na gut, ich werde mal darüber nachdenken.« Er nickt. »Gib mir einfach deine Telefonnummer, dann sag ich dir Bescheid.«
»Das wäre supertoll.« Ich strahle ihn an.
Er führt mich zu seinem Schreibtisch und reicht mir ein Blatt Papier. Eilig kritzle ich unsere Telefonnummer darauf. Als ich den Blick hebe, fällt mir das große Bild ins Auge, das genau hinter dem Schreibtisch hängt.
Es sieht ziemlich komisch aus. Im Hintergrund kann man etwas erkennen, das aussieht, wie eine sehr bunte, surreale Obstschale, doch alles wird verdeckt von… hm, was soll das sein?
»Wie heißt dieses Bild?« Ich deute auf das Gemälde.
» Liebe «, sagt Markus Wesser lächelnd.
» Liebe ?« Ich sehe wieder die Leinwand an.
»Ja.«
»Ich bin kein Kunstkenner, ich versteh nichts davon…«, sage ich vorsichtig. »Ich könnte so etwas niemals interpretieren. Oftmals steckt ja eine Menge dahinter, aber…«
»Was siehst du denn?«
Ich mustere erst ihn, dann das Bild. »Ähm… um ehrlich zu sein… Ich sehe ein Gemälde von einer Obstschale und… Es sieht so aus, als hätte jemand einen blauen Farbeimer drüber geschüttet. Tut mir leid, das ist Kunst, ich weiß, ich habe, glaube ich, kein Auge für so was…« Ich werde rot. Hoffentlich habe ich ihn gerade nicht irgendwie beleidigt.
Er sieht mich einige Sekunden lang stumm an… dieser Blick… Dann lacht er. »Du hast recht und zwar in allen Punkten. Manchmal ist es wirklich nur genau das, was es eben ist: Ein Gemälde, über das blaue Farbe geschüttet wurde. Und manchmal steckt doch sehr viel mehr dahinter. Das ist Kunst.«
Ich weiß absolut nicht, was ich darauf antworten soll, darum nicke ich etwas dümmlich und schaue dann auf meine Armbanduhr. Ach herrje, es wird Zeit für mich. Es ist schon halb acht.
»Ich muss leider gehen«, sage ich zu Herrn Wesser. »Ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn Sie mir bei diesem Schulprojekt helfen könnten. Bitte, denken Sie darüber nach.«
»Mach ich. In welche Klasse gehst du überhaupt?«
»In die zwölfte Klasse des Herbert-Auer-Gymnasiums.«
»Zwölfte Klasse… dann bist du jetzt…«
»Achtzehn«, sage ich schnell.
»Aha.« Er sieht mich an.
Ich reiche ihm die Hand. »Es hat mich wirklich gefreut.«
»Ja, mich auch. Ich werde mich dann bei dir melden.«
»Bitte, tun Sie das!« Ich lächle ihn freundlich an und gehe zu der breiten Glastür.
Draußen ist es schon dämmrig. Mit dem Herbst werden auch die Tage kürzer und die Nächte länger. Ich vergrabe meine Hände in den Hosentaschen und beeile mich, um zur nächsten U-Bahn-Station zu kommen. Mir ist kalt.
Markus Wesser…Es wäre super, wenn er mir bei diesem Kunstprojekt helfen würde. Er ist nett und offen, die Arbeit würde bestimmt Spaß machen. Und sein Wasser -Bild finde ich wahnsinnig schön.
Liebe … Ich versteh es nicht. Tja, Künstler müssen wohl etwas verschroben sein. Wobei, so seltsam hat er gar nicht gewirkt. Sein Lachen hat mir sehr gut gefallen. Es war irgendwie… Ich weiß nicht… vertraut…
***
Ich sitze auf der letzten Stufe der breiten Treppe in der Eingangshalle. Es ist komplett dunkel. Ich mache kein Licht an. Im Dunkeln kann ich besser denken. Im Haus ist es still. Alle schlafen. Nur ich nicht. Ich sitze hier unten in der Dunkelheit auf dieser Treppenstufe und
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