Chaosprinz Band 2
schulischen Leistungen ganz schön zu leiden haben.
Das Pausenklingeln ertönt, beendet die erste Stunde und schenkt uns fünf Minuten Freiheit.
»Wir werden den Text dann nach der Pause besprechen«, verkündet Frau Golinsky und nimmt ihre Tasche unter den Arm. Mit ihr verlassen auch die anderen sechs den Klassenraum. Ich bleibe allein zurück. Ist nicht schlimm, ich möchte gerade sowieso mit niemandem reden. Naja, mit fast niemandem. Ich hole mein Handy aus der Tasche und wähle Kims Nummer.
»Hey, Süßer«, begrüßt er mich.
»Hallo«, sage ich leise und merke, wie rau meine Stimme dabei klingt. Ich habe seit gestern Nacht kein Wort mehr gesagt. »Was machst du? Hast du viel Stress?«
»Nö, ich sitze hier und spiele mit meinen Kollegen Strippoker.« Er lacht.
»Ich hoffe, du verlierst nicht.«
»Nun, meine Jeans habe ich noch an. Kollege Jeukert, trägt nur noch seine rechte Socke…«
»Wo?«
Ich kann Kims fröhliches Lachen hören. »Nee, ich warte gerade, bis mein Chef sein Telefonat beendet hat, darum habe ich momentan etwas Zeit, und du? Musst du nicht pauken?«
»Ich bin mittlerweile der Meinung, dass ich in Hogwarts doch besser aufgehoben wäre. Ich würde so gerne Einhörner sehen und Mäuse in Teetassen verzaubern…«
»Wer würde das nicht«, meint er amüsiert. »Aber ihr lernt in der Schule doch auch ganz spannende Dinge. Zum Beispiel wie man mit sozialen Ungerechtigkeiten fertig wird oder wie viel Spaß Mobbing machen kann.«
»Hm, ja, das ist sehr lustig«, nuschle ich leise.
»Tobi, ist alles in Ordnung?« Nun klingt er doch ein bisschen besorgt.
»Ich habe meinem Vater gestern im Streit gesagt, dass ich schwul bin…« Ich atme tief aus.
»Aber das ist doch gut. Also nicht, dass ihr euch gestritten habt… Aber wenigstens hast du ihm nun die Wahrheit gesagt«, versucht er, mich zu überzeugen. »Wie hat er reagiert?«
Ich schlucke und betrachte die kleinen Kringel, die ich an den Rand des Textes über philosophische Anthropologie gemalt habe. »Ich… Keine Ahnung… Er hat mich in mein Zimmer geschickt…«, sage ich schließlich leise.
»Er hat dich in dein Zimmer geschickt? Einfach so? Aber er muss doch irgendwas gesagt haben«, meint Kim verständnislos.
»Nein. Wir haben ja gestritten…«
»Und jetzt?«, fragt er ruhig.
»Ich weiß nicht.«
»Naja, nun liegt es an ihm, zu handeln.«
»Ja.«
»Steht das Abendessen heute Abend bei Marc und Manu noch?«
Ich habe Kim gestern angerufen und ihm von Marcs Einladung erzählt. Er hat sofort begeistert zugestimmt. Ich finde es toll, dass er meine Freunde mag, und sie finden ihn auch sehr sympathisch, das macht vieles einfacher.
»Ja, wir sollen um neunzehn Uhr bei ihnen sein.«
»Ich hole dich um halb sieben zu Hause ab.«
»Ja, super.«
»Soll ich mich deinem Vater vorstellen?«
Was? Nee, das ist keine gute Idee, überhaupt keine! Ich denke nicht, dass Kims Anwesenheit mir in irgendeiner Art und Weise weiterhelfen kann. Im Gegenteil. Womöglich würde ich mit dieser Aktion jedes noch so biegsame Maß überspannen.
»Ich weiß nicht, Kim…«, sage ich daher sehr ehrlich.
»Vielleicht kann ich dich unterstützen.« Er klingt zuversichtlich.
»Oh Schatz, es ist süß von dir, dass du mir helfen willst, aber ich glaube wirklich nicht, dass du irgendetwas ausrichten kannst. Ich muss da alleine durch… glaube ich zumindest.« Seufzend reibe ich mir über die müden Augen und versuche, meinen grummelnden Magen zu ignorieren.
»Na gut, wie du meinst.« Seine sanfte Stimme schenkt mir ein paar kleine, warme Impulse, die sich zaghaft in meinem ganzen Körper ausbreiten.
»Tschüß«, hauche ich und lege auf. Ich hätte gerne noch ein bisschen länger mit ihm gesprochen. Vielleicht über etwas entzückend Belangloses, einen kleinen albernen Scherz oder liebevolle Schmeicheleien. Wir sehen uns ja bald.
Meine Mitschüler kommen zurück, setzen sich auf ihre Plätze und warten auf Frau Golinsky. Die Schulglocke läutet die nächste Stunde ein.
***
Mit gesenktem Blick schleiche ich durch die Gänge. Ich bin dermaßen in Gedanken vertieft, dass ich doch glatt an der Tür zu unserem Klassenzimmer vorbeilaufe.
»Hey, Tobi?« Jans Rufen schafft es, mich aus meiner Trance zu holen. Ich hebe den Kopf und sehe ihn an. »Wo willst du denn hin?« Er deutet auf die Zimmertür.
»Oh«, mache ich und unterstreiche diese geistreiche Aussage noch mit einem verwirrten Gesichtsausdruck. »Hab ich gar nicht gemerkt.«
Ich gehe einfach
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