Charles Dickens
Werken getroffen hatten. Diese Ausgabe war bewusst für Bahnreisende gedacht und deshalb handlich und billig. Jeder Band kostete einen Shilling, wobei die umfangreicheren Romane auf zwei Bände verteilt wurden.
Dickens war selber seit langem regelmäßiger Bahnfahrer, was ihm am 9. Juni 1865 beinahe zum Verhängnis geworden wäre. An diesem Tage saß er zusammen mit Nelly und ihrer Mutter auf der Rückreise von Paris im Zug von Folkestone nach London, als dieser bei Staplehurst aus den Gleisen sprang. Gleisarbeiter, die die Strecke auf einer Brücke reparieren sollten, hatten vorübergehend ein Gleis entfernt und keinen Zug erwartet, weil der Vorarbeiter den Fahrplan mit dem des nächsten Tages verwechselt hatte. Der Zug zerbrach in zwei Teile,wobei die Lokomotive mit dem Tender und dem ersten Wagen der ersten Klasse auf der Brücke hängen blieb, während der Rest in den Fluss Beult stürzte. Dickens hatte das große Glück, in dem Wagen zu sitzen, dessen Kupplung nicht gerissen war. Doch der Wagen hing über dem Abgrund und drohte abzustürzen. Selber unverletzt, kletterte er durch ein Fenster nach draußen, ließ sich von einem Bahnbediensteten die Schlüssel für die Tür des Abteils geben und half der nur leicht verletzten Nelly und ihrer Mutter heraus. Danach legte er tatkräftig mit Hand an, um weitere Passagiere aus den Waggons zu befreien, die in den Fluss gestürzt waren. Am Ende zählte man zehn Tote und zahlreiche Verletzte. Abgesehen von dem traumatischen Schock sah sich Dickens durch den Unfall in einer kompromittierenden Situation. Zum ersten Mal musste er ernsthaft fürchten, dass sein Verhältnis zu der jungen Schauspielerin an die Öffentlichkeit dringen könnte. Deshalb war er sicher unter denen, die sich gegen die namentliche Erwähnung der Betroffenen in der
Times
wandten, mit dem Argument, dass dadurch die Angehörigen nur unnötig beunruhigt würden.
«Das Eisenbahnunglück von Staplehurst». In der Zeitung
The penny Illustrated paper
vom 14. Juni 1865.
Dickens liest seinen Töchtern in Gad’s Hill Place vor. Fotografie.
Nach dem Unglück hatte Dickens zunächst eine begreifliche Scheu vor Bahnfahrten, und so verbrachte er die nächsten drei Monate in Gad’s Hill, wo er sich – mit Vorliebe in dem kleinen Chalet – ganz auf den laufenden Roman konzentrierte. Der ging ihm trotzdem nicht so von der Hand, wie er es früher gewohnt war, und sein Vorsprung schrumpfte auf eine einzige Lieferung. Ihm passierte sogar – nach eigener Aussage zum ersten Mal seit den
Pickwick Papers
–, dass eine Fortsetzung um zweieinhalb Seiten zu kurz ausfiel. Am 2. September hatte er endlich die als Doppelnummer geplante letzte Lieferung mit einem «Postscriptum anstelle eines Vorworts» abgeschlossen. Die Nummer erschien am 31. Oktober. Obwohl die Verkaufszahlen von Lieferung zu Lieferung nach unten gegangen waren, brachte ihm das Buch dank der raffinierten Vertragskonstruktion 12.000 Pfund ein, während Chapman & Hall Verlust machten. Kaum war das Manuskript der letzten Nummerunterwegs zum Drucker, machte sich Dickens wieder auf den Weg nach Frankreich. Diesmal ging es über Boulogne weiter nach Paris, wo er sich frei fühlte und dennoch die Luft einer Metropole atmen durfte, ohne sich dabei wie zu Hause über Schmutz und soziale Probleme aufregen zu müssen.
Aber schon am 17. November war er wieder in London, um sich um die Weihnachtsnummer seiner Zeitschrift zu kümmern, für die er bereits einen Stoff hatte, der typisch Dickenssche Züge trug. In
Doctor Marigold’s Prescriptions (Doktor Marigolds Verschreibungen)
erzählt er die rührende Geschichte eines in einem Wagen umherziehenden Straßenhändlers, der auf den Namen Doktor getauft wurde, weil ein freundlicher Arzt ihn kostenlos ans Licht der Welt befördert hatte. Als dem armen Mann Frau, Tochter und Hund weggestorben waren, nahm er ein taubstummes Mädchen zu sich und ließ sie in einer Spezialschule Lesen und Schreiben lernen. Da er mit ihr nicht reden konnte, schrieb er für sie eine Sammlung von Geschichten unter dem Titel
Doktor Marigolds Verschreibungen.
Später verlässt ihn das Mädchen, kehrt aber nach einiger Zeit mit einem taubstummen Ehemann zurück und präsentiert ihrem Pflegevater eine hübsche kleine Tochter, die sprechen kann. Das war wieder die vertraute Dickens-Mischung aus Humor, Sentimentalität und moralischer Botschaft.
Trotz nachlassender Kreativität klang das Jahr 1865 für ihn mit einem großen Erfolg aus; denn
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