Charles Dickens
einen Teppich eingeknüpft sind.
Wer die bisherigen Hinweise auf die Symbolik in den Romanen als Überinterpretation empfand, wird sie in
Our Mutual Friend
nicht mehr übersehen können. Gefängnishafte Häuser, das Wasser und das Erbschaftsmotiv, hier in Gestalt der ominösen Testamente, werden so offensichtlich miteinander verknüpft, dass an der symbolischen Absicht kein Zweifel mehr bestehen kann. Wie in den früheren Werken verweisen die drei Bildkomplexe auf drei typische Charakterstrukturen, die im Personal des Romans zum Ausdruck gebracht werden: hartherzige Erstarrung beim alten Harmon und bei Headstone, innere Haltlosigkeit bei Wrayburn und die Mittelposition, die John Harmon repräsentiert, der sich von der Fremdbestimmung durch seine Erbschaft emanzipiert. Dabei sind die Themse und das von Müllhalden umgebene Haus des alten Harmon, das bezeichnenderweise als Harmony Jail eingeführt wird, die beiden Pole, um die herum sich die übrigen Bilder wie Eisenspäne am Magneten gruppieren.
Der Roman beginnt mit einer Ouvertüre, deren Anfang bereits zitiert wurde. Darin wird die Themse als eine Sphäre des haltlosenDahintreibens mit der Gefahr des Versinkens eingeführt. In dieser ersten Szene holt Gaffer Hexam eine Leiche aus dem Wasser, die – wie der Leser später erfährt – die des Verbrechers Radfoot ist. Noch später erfährt man, dass John Harmon nach dem Mordversuch im Wasser eine Art Wiedergeburt erlebt hat. Der Ort, an dem das Verbrechen geschah, ist durch eine Engführung der Gefängnis- und Wassersymbolik bestimmt, wie sie auch in den früheren Romanen auftauchte: ein dunkles, heruntergekommenes Haus, das unmittelbar an die Themse grenzt. So sah bereits das Gebäude auf Jacob’s Island in
Oliver Twist
aus, wo Sikes sich durch einen Sprung aus dem Fenster unfreiwillig erhängt. Die Ähnlichkeit mit der Schuhwichsfabrik ist hier noch auffälliger als in den früheren Werken.
Doch in Dickens’ Fantasie hat sich mit den beiden Polen keine eindeutige Zuordnung von Freiheit und Unfreiheit verfestigt. Vielmehr zeichnen sich die Bilder durch eine charakteristische Ambivalenz aus. So sind die gefängnishaften Häuser in den Romanen zwar stets symbolischer Ausdruck von lebensfeindlicher Erstarrung; ihnen stehen aber burgartige Wohnhäuser – wie z.B. Wemmicks
Castle
in
Große Erwartungen
– gegenüber, die das genaue Gegenteil, nämlich Geborgenheit und Schutz vor der Außenwelt, repräsentieren. In
Unser gemeinsamer Freund
springt die Ambivalenz besonders ins Auge; denn hier steht auf dem Gelände von Harmony Jail das gemütliche Wohnhaus der Boffins, das von seinen Bewohnern liebevoll als Boffins
bower
, d.h. ‹Laube›, bezeichnet wird.
Die gleiche Ambivalenz zeigt sich beim Gegenbild, dem Wasser. Hier ist die Themse einerseits eine Sphäre, in der Menschen sterben und versinken; sie ist aber auch der symbolische Raum von zwei Regenerationserlebnissen. So findet John Harmon im Wasser zu sich selbst zurück und wird dadurch aus der Welt des Gefängnisses befreit. Auf der anderen Seite wird Wrayburn, der haltlos durchs Leben treibende, zwischen Zynismus und Selbstmitleid hin und her schwankende dandyhafte Spötter, nach Headstones Mordanschlag durch Lizzie aus dem Wasser gerettet und findet danach inneren Halt und moralische Festigkeit. Beiden Regenerationserlebnissen steht der Tod durch Ertrinken gegenüber, der den Verbrecher Radfoot und den halsstarrigen Headstone ereilt.
Es ist bezeichnend für Dickens’ Denken in symbolischen Zuordnungen,dass Radfoot als ehemaliger Seemann eingeführt wird, also der Sphäre des
drifting
angehört, während Headstone schon durch seinen Namen als ein in sich verhärteter Mensch charakterisiert ist. Bei Riderhood, der mit Headstone den für beide tödlichen Kampf im Wasser austrägt, ist die Bildverknüpfung noch bezeichnender. Eingeführt wird er als ein
waterman
, der wie Treibholz auf der Themse hin und her gleitet. Als solcher wird er von einem Dampfer gerammt und danach mit knapper Not vor dem Ertrinken gerettet. Dabei wird seine Rückkehr ins Leben ausdrücklich als ausbleibende Wiedergeburt beschrieben. Dann wechselt er symbolisch in die andere Sphäre, was durch seine Tätigkeit als Schleusenwärter zum Ausdruck gebracht wird. Das englische Wort
lock
für Schleuse, das ‹Schloss› bedeutet, ordnet dieses Bild eindeutig der Gefängnisseite zu. Zwischen den Symbolbereichen des Gefängnisses und des Wassers steht das Erbschaftssymbol, das unübersehbar
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