Charles Dickens
Harmon in den Fluss geworfen wird, wo dieser ein dramatisches Regenerationserlebnis hat, das ihn zu sich selbst zurückfinden lässt.
Diese Ausgangssituation, die erst in der Mitte des Romans erzählt wird, setzt eine vielgliedrige Handlungskette in Gang, bei der nahezu alle Beteiligten entweder einen anderen belauern und manipulieren oder von ihm belauert und manipuliert werden. Harmon selber mietet sich als John Rokesmith bei den Wilfers ein, um die ihm zugedachte Bella zu beobachten. Der an dem Mordversuch auf ungeklärte Weise beteiligte Riderhood – eine «Wasserratte», die das Suchen nach Wasserleichen zum Beruf gemacht hat – belauert den Konkurrenten Gaffer Hexam, der das «Glück» hatte, Radfoots Leiche aus dem Wasser zu ziehen. Eugene Wrayburn, der Kompagnon des mit der Harmonerbschaftund der Aufklärung des vermeintlichen Harmonmordes betrauten Anwalts Lightwood, lernt dabei Gaffer Hexams Tochter Lizzie kennen, in die er sich verliebt. Da er eine Ehe mit ihr aus Standesgründen für unmöglich hält, sie aber nicht aufgeben will, sucht er immer wieder ihre Nähe. Headstone, der Lehrers von Hexams Sohn Charlie, liebt Lizzie ebenfalls und entwickelt eifersüchtigen Hass auf den Rivalen. Als zuletzt der Entschluss in ihm reift, Wrayburn zu beseitigen, tut er das in der Verkleidung Riderhoods, um den Verdacht auf diesen zu lenken. Der wiederum wird zufällig Zeuge des Manövers, ahnt das Motiv und setzt Headstone unter Druck, was zu einem Zweikampf im Wasser führt, bei dem beide ertrinken. Zuvor hatte Wrayburn Headstones Mordanschlag mit knapper Not überlebt, weil Lizzie ihn rechtzeitig aus dem Wasser retten konnte.
Die hier skizzierte Handlungskette von Verfolgern und Verfolgten ist nur das grobe Gerüst, in das weitere Fälle ähnlicher Art eingewoben sind. So wird in einer satirisch erzählten Nebenhandlung das Milieu der Podsnaps und Veneerings vorgeführt, wo jeder jeden beobachtet und nach dem eigenen Vorteil trachtet. Im Handlungszentrum dieses Milieus stehen die Eheleute Lammles, die sich gegenseitig in die Falle gelockt haben, weil jeder beim anderen ein Vermögen vermutet hatte. Selbst die lautersten und gütigsten Menschen des Romans, die beiden Boffins, sind an dem Spiel beteiligt. So beobachtet Mrs. Boffin den bei ihrem Mann als Sekretär angestellten Rokesmith eines Abends heimlich und erkennt in ihm John Harmon, den sie in seiner Kindheit mütterlich umsorgt hatte. Von da an wird dieser Teil der Handlung als Komödie weitergeführt: Nun führt Boffin vor der zwischen ihrem Wunsch nach Reichtum und ihrer natürlichen Anständigkeit hin und her schwankenden Bella, die zu der Zeit bei den Boffins lebt, das Schauspiel eines Geizhalses auf, das seine Wirkung auf die flatterhafte, aber im Kern gute junge Frau nicht verfehlt.
Zahlreiche weitere Figuren sind an dem Spiel beteiligt. Selbst die skurrile Gestalt des einbeinigen Silas Wegg wird zum Belauerer. Ehe er Boffin persönlich kennenlernt, steht er bereits wie ein Privatdetektiv vor dem Haus des verstorbenen alten Harmon, in das die Boffins eingezogen sind, und behält es ständig im Blick. Später beobachtet er Boffin bei merkwürdigen Handlungen in den riesigen Müllbergen und entdeckt dort ein, wie er meint, von Boffin unterschlagenes Testament,mit dem er diesen erpressen will. Tatsächlich wäre aber Boffin der rechtmäßige Universalerbe, hätte er nicht das letzte und damit gültige Testament zugunsten von John Harmon unterdrückt. Am Ende lösen sich die beiden Stränge der Haupthandlung – der dunkle mit Wrayburn und Lizzie, der hellere mit John Harmon und Bella – wie in einer Komödie in sprichwörtlichem Wohlgefallen auf, und auch die Nebenhandlungen werden so zusammengeführt, dass keine losen Enden übrig bleiben.
Wer einen solchen Handlungsabriss liest, ohne Dickens’ Erzählkunst zu kennen, wird hier nur Lesefutter vermuten, wie es seit Beginn der kommerziellen Erzählliteratur tausendfach auf den Markt geworfen wurde. Die Vermutung ist nicht ganz falsch; denn in der Tat bietet Dickens seine ganze Kunst auf, um seine Leser mit Spannung und Humor zu unterhalten. Das war von Anfang an das Geheimnis seines Erfolgs, und er hat darin nie etwas gesehen, wofür er sich hätte schämen müssen. Dazu hatte er auch keinen Anlass; denn die kunstvoll geknüpften Plots seiner Romane erschöpften sich nie im bloß Sensationellen. Sie sind vielmehr – wie bereits hinreichend gezeigt – ein Grundgewebe, in das symbolische Bilder wie in
Weitere Kostenlose Bücher