Charles Dickens
die am 7. Dezember erschienene Weihnachtsnummer erreichte nach Forsters Angaben bereits in der ersten Woche eine Auflage von 250.000. Wieder einmal hatte der «Unnachahmliche» diesem Namen Ehre gemacht. Das dürfte ihn darüber hinweggetröstet haben, dass die Kritiken zu
Unser gemeinsamer Freund
sehr gemischt ausfielen. Der junge Henry Adams, Enkel und Urenkel zweier berühmter Präsidenten der USA, hielt den Roman sogar für Dickens’ schlechtesten. Es gab aber auch Stimmen, die dem Buch im Vergleich mit den früheren Werken größeren Reichtum und mehr Ernsthaftigkeit attestierten. Die hohe dichterische Qualität dieses letzten vollendeten Romans wurde aber erst im 20. Jahrhundert erkannt, als man in den spannend erzählten und mit skurrilem Humor gewürzten Geschichten die tieferen Bedeutungsebenen erkannte. Seitdem wird der Roman von vielen Kritikern zu Dickens’ reifsten Werken gezählt, und manche haben ihn in die Nähe von T. S. Eliots Gedicht
The Waste Land
gerückt, worinzum Ausdruck kommt, dass man inzwischen begonnen hat, Dickens’ Romane als große Prosagedichte zu lesen. Der Beginn dieses Romans ist ein gutes Beispiel für die poetische Sogwirkung, die Dickens bereits mit der «Ouvertüre» erzielt:
In diesen unseren Zeiten – einer exakten Jahreszahl bedarf es nicht – glitt ein Boot von schmutzigem, heruntergekommenem Aussehen mit zwei Gestalten darin die Themse hinab, von der eisernen Southwark Bridge zur steinernen London Bridge, während ein Herbstabend zur Neige ging.
Die Gestalten in dem Boot waren die eines kräftigen Mannes mit struppigem grauem Haar und sonnengebräuntem Gesicht und die eines dunkelhaarigen Mädchens von neunzehn oder zwanzig Jahren, ihm hinreichend ähnlich, um sie als seine Tochter kenntlich zu machen. Das rudernde Mädchen zog die Riemen leicht durchs Wasser; der Mann hielt die Hände mit den schlaffen Ruderseilen locker in den Hosenbund gehakt, während er mit scharfem Blick umher sah. Er hatte weder Netz noch Haken noch Leine, konnte also kein Fischer sein. Sein Boot hatte weder ein Sitzkissen noch einen Namen noch eine andere Ausstattung als einen rostigen Bootshaken und ein aufgerolltes Seil, er konnte also kein Fährmann sein; sein Boot war zu klein und zerbrechlich, um Lasten zu befördern, so konnte er kein Hafenleichter oder Flussschiffer sein; es gab keinen Anhaltspunkt für das, wonach er Ausschau hielt, doch er suchte nach etwas mit einem äußerst gespannten, forschenden Blick. Die Flut, die vor einer Stunde gewechselt hatte, strömte flussab, sein Blick folgte jedem Wirbel und jeder Stromschnelle, während das Boot sich leicht gegen die Strömung bewegte oder sich treiben ließ, je nach dem, was er seiner Tochter mit einer Kopfbewegung befahl. Sie achtete auf sein Gesicht so aufmerksam wie auf den Fluss. Doch in der Intensität ihres Blickes lag etwas von Furcht oder Abscheu. Dem Grund des Flusses verwandter als der Oberfläche, da das Boot von Schlick und Schleim überzogen war und von Nässe triefte, schienen die beiden Gestalten offensichtlich etwa zu tun, was sie oft taten, und etwas zu suchen, wonach sie oft suchten.
Unser gemeinsamer Freund
Dickens’ letzter vollendeter Roman ist sein dunkelster, obgleich die Düsternis durch groteske Figuren und durch Gesellschaftssatire stärker aufgelockert wird als z.B. in
Dombey und Sohn
oder
Harte Zeiten
. Mit Blick auf das symbolische Bildgeflecht ist er zugleich aber eines der dichtesten seiner Werke, was die Inhaltsangabe schon ahnen lässt:
John Harmon, die Zentralfigur des Romans, kehrt aus dem Ausland nach London zurück, um sein Erbe anzutreten. Sein kaltherziger, geiziger Vater hat mit dem Einsammeln und Verwerten von Müll ein Vermögen angehäuft, das er seinem Sohn testamentarisch unter der Bedingung hinterlässt, dass er Bella Wilfer, eine ihm völlig fremde Frau, heiratet. Die Erinnerung an seine unglückliche Kindheit und der Groll gegenüber der testamentarischen Fremdbestimmung stürzen Harmon in einen inneren Zwiespalt. Deshalb lässt er sich von George Radfoot, einem ihm sehr ähnlich sehenden Mitreisenden, dazu überreden, dass dieser mit ihm die Kleider tauscht, um an seiner Stelle Bella Wilfer erst einmal zu prüfen. Doch Radfoot plant, Harmon zu beseitigen, um in den Besitz seiner Erbschaft zu kommen. Der Mordversuch in einer Spelunke am Ufer der Themse endet damit, dass Radfoot selber von den angeheuerten Komplizen ermordet und zusammen mit dem durch eine Droge betäubten
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