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Charles Dickens

Charles Dickens

Titel: Charles Dickens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Dieter Gelfert
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durch die riesigen Müllhalden repräsentiert wird, die die Erscheinungswelt des Romans physisch und die symbolische Komposition thematisch beherrschen. Wie sehr es Dickens darum ging, das Handlungsmotiv einer testamentarischen Zwangsverfügung zum Symbol zu überhöhen, ist daran abzulesen, dass er den an sich schon offensichtlichen Zusammenhang zwischen den Müllhalden und dem Testament noch dadurch unterstreicht, dass er die Halden als Versteck für die verschiedenen Fassungen des Testaments in die Handlung einbezieht.
    An dieser Stelle soll zusammenfassend noch einmal das durchgängige Thema von Dickens’ Romanen betrachtet werden. Anders als bei seinem bewunderten Vorgänger Henry Fielding, dessen Helden als
tabula rasa
in die Welt eintreten, sind seine eigenen Hauptfiguren von Anfang an in ein ererbtes Schicksalsnetz verstrickt, von dem sie sich durch einen Emanzipationsakt befreien müssen. Das ist noch nicht die Heteronomie der Lebenslüge, die Ibsens großes Thema ist, aber es ist eine Fremdbestimmung, die als Problem thematisiert wird. Dadurch gewinnen Dickens’ Romane, die in typisch viktorianischem Gewand daherkommen, eine Modernität, die man ihnen lange Zeit nicht zugestehen wollte und die bis heute nicht das Klischee vom Viktorianer verdrängen konnte.
    Es gibt eine Stelle in
Unser gemeinsamer Freund
, bei der wohl jeder Leser an Ibsen denken wird. Es ist die Szene, in der die moralischeWiedergeburt Bella Wilfers vorgeführt wird. Nachdem Bella, die von ihrer Mutter stets zu einer Geldheirat gedrängt wurde, durch Boffins Komödie zu sich selbst zurückgefunden hat, heiratet sie heimlich aus Liebe den, wie sie glaubt, mittellosen John Rokesmith, in dem ihre Mutter einen Bettler (
mendicant
) sieht. Bevor sie erfährt, dass ihr Bräutigam dank Boffins Großmut der Erbe des Harmon-Vermögens ist, kommt es in dem Kapitel
The Mendicant’s Bride
, «Die Braut des Bettlers», zu einer komödienhaften Szene, in der sich Bella ihrer geldgierigen Mutter und ihrer ebenso materialistischen Schwester Lavinia als eine moralisch wiedergeborene Frau zeigt, die sich von ihren «großen Erwartungen» emanzipiert hat. Ohne ihrer Familie einen Vorwurf zu machen, bekennt sie sich zu ihrem Ehemann und zu dem bescheidenen, aber glücklichen Leben, das sie an seiner Seite führen wird. Sie beschreibt ihr kleines Haus als das bezaubernste «Puppenhaus», fügt dann aber, an ihren Mann gerichtet, hinzu: «Ich möchte etwas viel Würdigeres sein als eine Puppe im Puppenhaus.» Fünfzehn Jahre nach Erscheinen des Romans kam Ibsens Stück
Nora. Ein Puppenheim
heraus, dessen Heldin anfangs eine genauso kapriziöse Frau wie Bella Wilfer ist. Doch Nora ist bereits das Opfer ihrer Selbstaufgabe an das «Puppenheim», aus dem sie sich durch einen schmerzhaften Emanzipationsakt befreien muss, während Bella mit Hilfe gütiger Menschen schmerzfrei zu ihrem besseren Ich geführt wird und zur Belohnung dafür erfährt, dass sie tatsächlich einen reichen Ehemann hat. Das schränkt den Vergleich mit Ibsen erheblich ein. Man muss aber bedenken, dass für Dickens die Emanzipation der Frau kein Thema war, wohingegen die seiner männlichen Helden im Zentrum seiner Romane steht.
    Ibsen wählte für sein großes Thema die Form des analytischen Dramas, bei der es um die Aufklärung und Bewältigung eines problematischen Geschehens geht, das vor dem Beginn der Handlung liegt. Dickens entwickelte für den gleichen Zweck eine Romanform, der das Schema des Detektivromans zugrundeliegt. Wenn man sich daran erinnert, dass schon wenig später die Psychoanalyse aufkam, deren Frühform er selber mit seinen mesmeristischen Versuchen praktizierte, dann wird man erkennen, dass Dickens hier in einer großen Kulturbewegung des späten 19. Jahrhunderts steht. Diese unterscheidet sich von dem progressiven Entwicklungsdenken des aufgeklärten 18. Jahrhunderts dadurch, dass nun die Aufklärung regressiv erfolgt, wobei das Zielnicht mehr die Persönlichkeitsbildung durch sukzessive Weltaufnahme, sondern die Emanzipation der Person von der Fremdbestimmung durch die Welt ist.
    Allerdings darf das Bild des «modernen» Dickens nicht darüber hinwegtäuschen, dass daneben der Viktorianer existiert. Wer Dickens nur als den Vorläufer Ibsens vorstellt, setzt sich dem berechtigten Vorwurf aus, alles das auszublenden, was für die weltweite Dickensgemeinde das Unnachahmliche seiner Kunst und für seine Kritiker seine unübersehbaren Mängel ausmacht. Unübersehbar ist

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