Charles Dickens
in
Unser gemeinsamer Freund
, wie in den früheren Romanen, die Neigung zu moralisierender Sentimentalität und verklärender Idylle. Was Dickens im Brustton sozialkritischer Entrüstung über die vor dem Armenhaus fliehende Betty Higden schreibt, ist für den modernen Leser ebenso schwer erträglich wie die Heile-Welt-Idylle, in die die Liebe zwischen John Harmon und Bella Wilfer einmündet.
Gemildert wird die Peinlichkeit dieser Mängel durch seinen Humor, in dem sich menschliche Wärme, skurriler Witz und makabrer Sarkasmus zu jener Mischung verbinden, die sein Markenzeichen war. In keinem anderen seiner Werke hat er die ganze Skala seines Humors so virtuos ausgespielt wie in diesem letzten. Der Roman ist eingebettet in einen Erzählfluss, der zwischen witzig-ironischer Gesellschaftssatire und rabenschwarzer Groteske hin und her changiert. Kein anderer Erzähler konnte Handlungshöhepunkte mit solch atmosphärischer Intensität aufladen wie Dickens, und niemand außer Shakespeare konnte ohne Stilbruch von blutigem Ernst in ein sogenanntes
comic relief
überwechseln.
Noch im allerletzten Kapitel gelingt es Dickens, die süßliche Idylle, in der die Haupthandlung endet, mit der Rückkehr zum Veneering-Milieu einzusäuern. Unter dem Titel «Die Stimme der Gesellschaft» werden noch einmal die Repräsentanten der guten Gesellschaft und ihre Schranzen zusammengeführt, um über den Skandalfall der Mesalliance zwischen Eugene und Lizzie zu Gericht zu sitzen. Hier hält Dickens’ Satire genau die Mitte zwischen moralischer Entrüstung und mitfühlender Sentimentalität. Als Lichtblick unter lauter Lemuren erweist sich unverhofft Mr. Twemlow, ein verarmter, lebensuntüchtiger und etwas vertrottelter Aristokrat, der zuvor bei allen Treffen der Veneerings anwesend war. Er ist der einzige, der Verständnis für Wrayburnausdrückt, was ihn bei aller Lächerlichkeit ein wenig als «Gentleman des Herzens» erscheinen lässt. In
Große Erwartungen
war es ein Sträfling, der aus Pip einen Gentleman machen wollte und zuletzt einen des Herzens werden ließ. Jetzt ist es ein verarmter Aristokrat, der dieses Ideal zum Ausdruck bringt.
Darin kommt ein weiteres Mal Dickens’ desillusionierte Vorstellung von der guten Gesellschaft zum Ausdruck. Tief im Innern blieb er der
underdog
, der sich gefühlsmäßig den Mühseligen und Beladenen näher fühlte als den Gutsituierten. Es zeigt sich darin aber auch der tiefe Riss, der durch seine Persönlichkeit ging; denn sein lebenslanges Streben ging danach, in die Schicht der Gentlemen aufzusteigen. Während er selber Reichtum anhäufte, stellte er in seinen Romanen, vor allem in
Große Erwartungen
, gerade den Verlust eines Vermögens als einen moralischen Sieg und damit als das Erstrebenswerte dar. Da wirkt der Schluss von
Unser gemeinsamer Freund
wie ein Versuch, den inneren Zwiespalt zu überbrücken; denn hier erringen John Harmon und Bella Wilfer zuerst den moralischen Sieg durch den Verzicht auf die Erbschaft und bekommen diese anschließend vom gütigen Boffin als Geschenk zurück. Boffin, der einfache Mann aus dem Volke, ist gewissermaßen der Katalysator, der aus dem schmutzigen Reichtum des alten Harmon, verkörpert durch die Müllberge, ein moralisch verdientes Vermögen macht. Ebendas war das viktorianische Kriterium des idealtypischen Gentleman: er soll seinen Wohlstand, ohne dafür hart gearbeitet zu haben, moralisch verdienen.
Lesetourneen und
Amerikapläne
1866 und 1867
Nach Abschluss des letzten Romans und der Weihnachtsgeschichte stürzte sich Dickens nicht, wie so oft in früheren Jahren, in eine Theateraufführung, sondern begnügte sich damit, seinem Freund Fechter bei der Dramatisierung von Scotts Roman
Die Braut von Lammermoor
behilflich zu sein. Statt ins Rampenlicht zu drängen, zog er sich jetzt in einen verschwiegenen Schlupfwinkel zurück. In dem kleinen Städtchen Slough nördlich von London mietete er ein Cottage für sich und wenig später in einer Nachbarstraße ein zweites für Nelly und ihre Mutter, für das er die Miete abwechselnd unter den Namen Charles Tringham und Charles Turnam bezahlte. Der verschlafene Ort eignete sich wegen seiner guten Eisenbahnanbindung bestens für ein Liebesnest, das sich von London schnell erreichen ließ und dennoch die Gewähr bot, keinem Bekannten über den Weg zu laufen. Schon im Oktober des Vorjahres hatte Nelly ihr Stadthaus Houghton Place vermietet und eine kleinere Wohnung in der Nachbarschaft bezogen. Die
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