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Charles Dickens

Charles Dickens

Titel: Charles Dickens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Dieter Gelfert
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freie Entscheidung genommen worden war, was verhinderte, dass sie sich ohne diese Fremdbestimmung vielleicht wirklich ineinander verliebt hätten.
    Begehrt wird Rosa von Edwins Onkel John Jasper, dem Chordirektor der Kathedrale. Obwohl Jasper nur wenig älter ist als sein Neffe, war er zu dessen Vormund bestimmt worden. Mit seinem Auftritt in der Opiumhöhle beginnt der Roman. Er ist ein von heftigen Leidenschaften zerrissener Charakter, der einerseits tiefe Zuneigung zu seinem Neffen bekundet, andererseits aber in ihm einen Rivalen sieht. Als Edwin am Weihnachtstag plötzlich verschwunden ist, richtet sich der Verdacht des Lesers deshalb sogleich auf Jasper, während dieser ihn aufNeville Landless lenkt, einen leidenschaftlichen jungen Mann, den Jasper vorher zu aggressiven Äußerungen gegenüber Edwin provoziert hatte. Auch hier fühlt man sich an den vorangegangenen Roman erinnert, wo Bradley Headstone, ein ähnlich harter, von unterdrückter Leidenschaft beherrschter Charakter wie Jasper, einen Mord aus Eifersucht begeht.
    Umschlagbild von
The Mystery of Edwin Drood
.
    Was schon die Grundstruktur von
Unser gemeinsamer Freund
bestimmte, nämlich das Geflecht von sich gegenseitig belauernden und verfolgenden Personen, ist hier noch viel ausgeprägter. Noch vor Edwins Verschwinden wird Jasper von der mysteriösen Betreiberin der Opiumhöhle verfolgt. Beim ersten Mal verliert sie seine Spur, doch beim zweiten Mal dringt sie bis zu seiner Wohnung vor. Jasper seinerseits verfolgt Landless und versucht, ihm den Mord an Edwin anzuhängen. Später taucht in Cloisterham der geheimnisvolle Dick Datcheryauf, der sich ständig an seinen weißen Haarschopf greift, als müsse er eine Perücke festhalten. Er wird von Anfang an als Detektivfigur eingeführt.
    Von London aus verfolgt auch Rosas und Edwins Anwalt Grewgious das Geschehen in Cloisterham, und dem Leser wird der Verdacht nahegelegt, dass der Anwaltsgehilfe Bazzard unter der weißen Perücke Datcherys steckt; denn unmittelbar vor dessen Erscheinen in der Provinzstadt verschwand Bazzard aus der Londoner Kanzlei. Rosa, die vor Jasper zu ihrem Anwalt nach London flieht, wird von diesem in einem sicheren Haus einquartiert. Auch für Neville und seine Schwester Helena findet Grewgious eine Unterkunft. Eine weitere Figur in diesem Spiel ist der Kanoniker Crisparkle, der es sich zur Aufgabe macht, Nevilles Unschuld zu beweisen. Als er ein halbes Jahr nach Edwins Verschwinden Grewgious in London aufsucht, sehen die beiden vom Fenster aus Jasper im gegenüberliegenden Haus, der offenbar seinerseits auf der Spur von Neville ist. In der kleinen Provinzstadt Cloisterham scheint sogar jeder jeden zu beobachten.
    Schon bald nach dem mutmaßlichen Mord wird klar, dass das Testament der Eltern von Edwin und Rosa nicht die einzige Erbschaft ist, um die es hier geht. Auch die Betreiberin der Opiumhöhle, die Jasper auf den Fersen ist, muss dafür ein Motiv haben, das in die Vergangenheit zurückreicht. Damit liegt hier die für Dickens charakteristische Vorstellung eines Schicksalsnetzes vor, dessen Wirkung nur durch Aufklärung entschärft werden kann. Für Dickens’ «Lieblingstheorie» von der «Kleinheit der Welt» gibt es ebenfalls ein Beispiel: Als Crisparkle in London den ehemaligen Seemann Tartar trifft, der großzügig seine Wohnung als Zuflucht für Neville zur Verfügung gestellt hat, erkennt er in ihm einen jüngeren Mitschüler, der ihn einst vor dem Ertrinken gerettet und ihm anschließend das Schwimmen beigebracht hat. Dass Rosa vor Jasper in Sicherheit ist, wird in der für Dickens typischen Weise dadurch angezeigt, dass Tartar sie zu einer Bootsfahrt auf der Themse einlädt. Neville hingegen, der sich in seine Londoner Zuflucht wie in eine Höhle verkriecht, muss die innere Befreiung erst noch leisten.
    Die Kernfrage, die sich nach der ersten Hälfte des Romans stellt, lautet: Ist Edwin wirklich tot? Dass Jasper versucht hat, ihn zu ermorden, scheint klar zu sein. Denn als er nach der Tat erfährt, dass Edwin und Rosa sich einvernehmlich getrennt hatten, fällt er in Ohnmacht,was vermuten lässt, dass ihm bewusst wurde, einen überflüssigen Mord begangen zu haben. Klar scheint ebenfalls zu sein, dass er den Mord auf Neville, den zweiten Rivalen um die Gunst Rosas, zu schieben versucht. Als Edwins Uhr hinter dem Stauwehr gefunden wird, gibt es für den Leser kaum einen Zweifel, dass das Indiz dort gefunden werden sollte. Weitere Indizien werden vorher eingeführt, die

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