Charles Dickens
Kindern liebte. Da Sohn Charley am 6. Januar geboren war, fiel sein Geburtstag auf die «zwölfte Nacht» nach Weihnachten, die schon zu Shakespeares Zeiten mit Theateraufführungen und vergnüglichen Spielen gefeiert wurde. Mit der Zeit und mit wachsender Kinderschar etablierte sich dieser Tag auch in Dickens’ Haushalt als ein geselliges Ereignis, zu dessen Ausgestaltung er selber das meiste beitrug. So lernte er in den nächsten Jahren den Kindern zuliebe Zauberkunststücke, die er bei solchen Gelegenheiten mit professioneller Perfektion vorführte. Auch das Verhältnis zu seiner Frau war harmonisch. Catherine war stolz auf ihren erfolgreichen Mann, und Dickens genoss die Komplimente, die man ihm zu seiner hübschen Frau machte. Noch war sie so jung, dass er in ihr einen Abglanz jener Mädchenhaftigkeit sehen konnte, die er in ihrer Schwester Mary idolisiert hatte.
Die Pickwickier
Eine Inhaltsangabe würde kaum verständlich machen, weshalb dieses Buch einen so sensationellen Erfolg hatte und danach einen fast mythischen Status erlangte. Nichts daran schien originell zu sein. Die episodische Erzählweise gehörte seit über hundert Jahren zum Standardrepertoire der englischen Erzählliteratur. Daniel Defoe, Henry Fielding und Tobias Smollett, mit deren Werken Dickens seit seiner Kindheit vertraut war, hatten die aus der Tradition des spanischen Schelmenromans entlehnte Form populär gemacht. Im spanischen Vorbild – nach dessen Heldenfigur, dem Picaro, die Form auch «pikarisch» genannt wird – war der Held noch ganz im Sinne des Barock dem Rad der Fortuna ausgeliefert, das ihn von Station zu Station durch wechselnde Höhen und Tiefen trug. Bei Fielding hingegen traten die Helden als
tabula rasa
in die Welt ein, d.h. als eine leere Schrifttafel, die im Sinne des von John Locke begründeten Empirismus sukzessiv mit Welterfahrung beschrieben wird, was aus der barocken Achterbahn die Aufstiegsleiter eines aufgeklärten Sozialisierungsprozesses macht. In seinem ersten Roman
Die Geschichte von den Abenteuern Joseph Andrews und seines Freundes, des Herrn Abraham Adams
(1742) bekannte sich Fielding offen zu seinem spanischen Vorbild; denn dem Titel folgt der Zusatz «geschrieben nach Art des Cervantes, des Autors von ‹Don Quichote›». Auch ohne diesen Zusatz hätte jeder Leser in Joseph Andrews und Pfarrer Adams den Bezug auf Don Quichote und Sancho Panza erkannt. In Abwandlungen kehrte dieses Gespann danach in zahlreichen Romanen wieder.
Als Dickens der langen Reihe von Vorgängern Mr. Pickwick und seinen gewitzten Diener Sam Weller folgen ließ, kann das seinen Lesern kaum besonders originell erschienen sein. Auch die Kombination des altvertrauten Cervantes’schen Schemas mit der ebenfalls nicht mehr taufrischen Form der
sporting scenes
war nicht neu, ebensowenig der skurrile Humor, den man von Laurence Sterne kannte. Das Gleiche gilt für die grotesken Elemente, die seit Smollett zum Repertoire komischer Erzählungen gehörten. Ein weiterer Autor, an den sich die Lesererinnert fühlen mussten, war Theodore Hook, der deshalb in heutigen Literaturgeschichten als Vorläufer von Dickens genannt wird. In seiner neunbändigen Sammlung von Erzählungen, die von 1824 bis 1828 unter dem Obertitel
Sayings and Doings
:
A Series of Sketches From Life
(
Reden und Treiben: Eine Serie von Skizzen aus dem Leben
) erschien, gab es bereits die scharf beobachteten Marotten und absonderlichen Verhaltensweisen, die zu Dickens’ Markenzeichen wurden. Selbst das Londoner Lokalkolorit war nicht neu; denn Pierce Egan hatte in seiner Wochenzeitschrift
Pierce Egan
’s
Life in London and Sporting Guide
die
sporting scenes
bereits in der Metropole angesiedelt und sie mit Londoner Stadtslang gewürzt. Es wundert deshalb nicht, dass einer der ersten Rezensenten der
Pickwick Papers
am 3. Dezember 1836 im
Athenaeum
das Rezept des Buches so beschrieb: «zwei Pfund Smollett, drei Unzen Sterne, eine Handvoll Hook und eine Prise der Sprache Pierce Egans».
«Mr. Pickwick spricht vor seinem Club». Gezeichnet von Robert Seymour.
Die besondere Wirkung, die Dickens mit dieser Rezeptur erzielte, lag nicht in den Zutaten, sondern in der Zubereitung. In den ersten drei Folgen des Romans wirkt das Repertoire komischer Effekte noch ein wenig konventionell, doch mit dem Auftritt Sam Wellers bekommtdie Erzählung einen unverwechselbaren Ton. Das Gespann, das der grundgütige, rundlich-joviale Mr. Pickwick mit seinem agilen Diener bildet, ging
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