Charles Dickens
dass er wiederholt auf die finanzielle Misere von Sir Walter Scott zu sprechen kam, lässt vermuten, dass er einen Absturz nicht für ausgeschlossen hielt. Deshalb tat er am 6. Dezember 1839 einen überraschenden Schritt und schrieb sich an der Rechtsschule des Middle Temple ein, um sich zum Juristen ausbilden zu lassen. Sollte die literarische Karriere ins Stocken geraten, hätte er dann wenigstens einen hochangesehenen und einträglichen bürgerlichen Beruf. Die nicht eingetretene Notlage ersparte der Nachwelt einen vermutlich schlechten Juristen, der sich mehr von seinen Gefühlen als vom Recht hätte leiten lassen, und erhielt ihr einen genialen Erzähler.
Dickens (1839). Porträt von Daniel Maclise.
Nicholas Nickleby
Dickens’ dritter Roman erschien zuerst in Fortsetzungen unter dem bereits genannten Titel
Leben und Abenteuer des Nicholas Nickleby: ein wahrheitsgetreuer Bericht der Glücks- und Unglücksfälle, der Aufstiege, Abstürze und der vollständigen Karriere der Nickleby-Familie, herausgegeben von ‹Boz›
. Schon dieser Titel verrät, an welchem Vorbild sich Dickens orientierte. Es war Tobias Smollett, neben Fielding der zweite große Repräsentant des pikarischen Romans im 18. Jahrhundert. Der alliterative Name des Titelhelden erinnert an Smolletts
Roderick Random
und
Peregrine Pickle
; und wie bei diesen besteht die Handlung aus einer Folge von Abenteuern, die Nicholas von Station zu Station, von Episode zu Episode durch England und die englische Gesellschaft führen. An Smollett erinnern auch die grotesk überzeichneten Figuren, mit denen Dickens – teils in satirischer Absicht, teils um der bloßen Komik willen – seinen Roman bevölkert. Das Buch ist so figurenreich, dass sich der Leser am Ende der über 800 Seiten kaum noch an alle erinnert. Da Dickens darin die Komik der
Pickwick Papers
mit der Sozialkritik von
Oliver Twist
zu verbinden versuchte, wirkt der Roman im Ganzen weniger einheitlich als seine beiden Vorgänger.
Wie in
Oliver Twist
geht es auch hier um soziale Missstände. War es dort das Arbeitshaus, so ist es jetzt der beklagenswerte Zustand der Privatschulen in Yorkshire, in denen arme Kinder schamlos ausgebeutet und nicht selten zu Tode gequält wurden. Da diese Schulen eine ganzjährige Unterbringung der Schüler anboten, wurden sie vor allem zur Entsorgung unerwünschter Kinder genutzt, um die sich die Eltern oder Vormünder nicht einmal in den Ferien zu kümmern brauchten. Auf seiner Erkundungsreise hatte Dickens einen Schulleiter, William Shaw, interviewt, den er danach in der Figur des Squeers an den Pranger stellte. Shaw war bereits 1823, allerdings ohne nennenswerte Konsequenzen, vor Gericht zitiert worden, weil an seiner Schule zwei Jungen wegen Vernachlässigung erblindeten. In seinem Roman lässt Dickens seinen Helden Nicholas, dessen Mutter und Schwester nach dem Tod des Vaters auf die Gnade eines hartherzigen Onkels angewiesen sind,als Lehrer an Squeers’ Schule gehen. Die trägt den ominösen Namen
Dotheboys Hall
, was auf Deutsch soviel wie «Mach die Jungs fertig» heißt. Nicholas hält es dort nicht lange aus. Als der Schulleiter einen Schüler sadistisch quält, verprügelt ihn Nicholas und verlässt die Anstalt, wobei ihm der ausgemergelte und seelisch gebrochene Schüler Smikes folgt. Die beiden schließen sich danach einer Schauspieltruppe an, die Nicholas bald zu ihrem Leiter macht.
Neben diesem Handlungsstrang wird in einem zweiten erzählt, wie Kate, die Schwester des Helden, durch ihren Onkel Ralph an eine Putzmacherin vermittelt wird, wo ihr die gleiche Ausbeutung blüht wie ihrem Bruder an der Schule. Ein weiterer eingeflochtener Handlungsstrang handelt von korrupten Adligen, die nach Kates Unschuld trachten. Nach zahlreichen, theatralisch erzählten Episoden wird die vielgliedrige Handlung zu einem moralisch befriedigenden Ende gebracht. Der bösere der beiden Adligen tötet seinen Rivalen im Duell und muss auf den Kontinent fliehen. Smikes stirbt an Entkräftung und gesteht kurz vor seinem Tod seine Liebe zu Kate; und Ralph Nickleby, der hartherzige Onkel, erfährt, dass Smikes sein Sohn aus einer heimlichen Ehe war, den ihm ein früherer Angestellter aus Rache für schlechte Behandlung als tot gemeldet hatte. Nach dieser Enthüllung nimmt sich Ralph mit einem Strick das Leben. Damit fällt sein Vermögen an Nicholas, der nun Madeline Bray heiraten kann, die ihrerseits kurz davor war, mit einem alten Mann verheiratet zu werden, weil nur
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