Charles Dickens
mit dessen Geld ihr Vater aus dem Schuldgefängnis ausgelöst werden konnte. Der Tod des alten Nickleby an Madelines geplantem Hochzeitstag bewahrt sie vor einer Ehe, in die sie nur aus Pflichtgefühl eingewilligt hatte.
Der grobe Handlungsabriss lässt keinen Roman erwarten, der für heutige Leser noch interessant sein könnte; denn die Zielscheiben der Satire sind nicht mehr aktuell, und die Psychologie der Figuren ist so schematisch, dass auch ihre individuellen Schicksale zu keiner einfühlenden Lektüre einladen. Umso erstaunlicher ist, dass der Roman trotzdem bis heute publikumswirksam geblieben ist. Noch 1980 wurde die von der Royal Shakespeare Company aufgeführte achtstündige (!) Dramenfassung ein so großer Erfolg, dass sie wenig später im Fernsehen ausgestrahlt und als Videoaufnahme auf den Markt gebracht wurde. Der Reiz des Romans liegt in seiner typischen Dickensqualität: in demfantasievollen Bilderbogen skurriler, grotesker und satirisch überzeichneter Figuren, die eingebettet sind in ein Wechselbad von aggressiver Sozialkritik und sentimentalem Melodrama. Es ist eine Mischung, die fortan zum Markenzeichen aller Dickensromane wurde.
Von der symbolisch aufgeladenen Bilderwelt, die in
Oliver Twist
bereits klar hervortritt, ist hier wenig zu spüren. Nur wer das Gesamtwerk kennt, wird die Motive erkennen, die sich obsessiv durch Dickens’ Werke ziehen. So spielen auch hier gefängnishafte Häuser wie die Schule
Dotheboys Hall
und das Haus von Ralph Nickleby eine Rolle als sichtbarer Ausdruck der inneren Erstarrung ihrer Bewohner, während die moralische Haltlosigkeit der korrupten Aristokraten mit dem Bildbereich des Wassers in Verbindung gebracht wird, als die beiden Kontrahenten sich auf einer Wiese an der Themse duellieren. Auch das Erbschaftsmotiv spielt eine Rolle; denn Madeline Bray wird von dem alten Geizkragen Arthur Gride, den sie um ein Haar hätte heiraten müssen, nur deshalb umworben, weil ihm zu Ohren gekommen ist, dass sie eine große Erbschaft zu erwarten habe. Umgekehrt hätte für Nicholas selber die Versuchung nahegelegen, sich als nächster Blutsverwandter und damit als potentieller Erbe bei seinem Onkel Ralph einzuschmeicheln. Doch das Motiv der ‹großen Erwartungen›, das später immer festere Formen annimmt, ist hier nur zu ahnen.
Dickens schrieb den Roman unter großem Zeitdruck. Manchmal hatte er Mühe, die vereinbarte Seitenzahl zu füllen; dann machte er, wie schon in den
Pickwick Papers
, von bereits fertigen Texten Gebrauch, die er als eingelegte Erzählungen in den Roman einfügte. Bezeichnend für seinen engen Rapport mit seinen Lesern ist die folgende Anekdote. Im Dezember 1839 schrieb ihm der fünf jährige William Hughes, der jüngere Bruder des späteren Verfassers von
Tom Brown’s Schooldays
(1857), er möge den bösen Squeers ordentlich bestrafen, worauf Dickens dem Jungen zurückschrieb, dass er dem Bösewicht inzwischen einen gehörigen «Schlag ins Genick und zweie auf den Kopf» verpasst habe. Vielleicht ist gerade die Wehrhaftigkeit des Titelhelden der Grund für die andauernde Popularität des Romans. Nicholas ist entschieden tatkräftiger als die späteren Helden, die ihr Leben eher erleiden, als dass sie es in die Hand nehmen.
Gute Gesellschaft und
eigene Zeitschrift
1840
Nach dem Bruch mit Bentley hatte Dickens das lästige
Barnaby Rudge
-Projekt erst einmal vom Halse, obschon er befürchten musste, dass der Verleger ihn wegen des Vertragsbruchs in einen langwierigen Rechtsstreit verwickeln könnte. Doch zunächst ging es darum, die neue, ganz seiner Regie unterstellte Wochenzeitschrift vorzubereiten, für die ihm Chapman & Hall bereits im Oktober des Vorjahres grünes Licht gegeben hatten, auch wenn der förmliche Vertrag noch auf sich warten ließ. Die Freiheit von unmittelbaren Verpflichtungen nutzte er, um seine sozialen Kontakte zu den besseren Kreisen auszuweiten.
Nachdem er bereits 1838 in den liberalen Salon von Lady Augusta-Mary Holland in Holland House eingeladen worden war, ließ er sich jetzt durch Forster in den noch freizügigeren Salon der Lady Blessington (1789–1849) in Gore House in Kensington einführen. Die schöne Gräfin war eine schillernde Gestalt. Als Tochter eines kleinen Landbesitzers in Irland war sie im Alter von 15 Jahren für Geld mit einem brutalen Trunkenbold verheiratet worden, den sie später verließ. Nach dem Tode ihres Mannes heiratete sie mit 29 Jahren den irischen Grafen Blessington, mit dem sie Europa
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