Charles Dickens
Seite zeigt er innerlich verhärtete Menschen, die zuweilen schon durch Namen wie Murdstone oder Headstone als solche markiert sind, auf der anderen Seite stehen haltlos Treibende. Die beiden Typen repräsentieren das, was symbolisch in den Bildkomplexen des Gefängnisses und des Wassers zum Ausdruck kommt. Ein dritter Typus, der moralisch gefestigt, aber dennoch offen für mitmenschliche Beziehungen ist, repräsentiert die positive Mitte zwischen den Extremen.
Der Raritätenladen
wurde vom Publikum mit noch größerer Anteilnahme aufgenommen als
Oliver Twist.
Unzählige Leser bangten umLittle Nell und hofften, Dickens würde sie nicht sterben lassen. Als das Schiff, das die letzte Fortsetzung des Romans nach Amerika brachte, im Hafen von New York erwartet wurde, soll es dort von einer großen Menge mit dem angstvollen Ruf «Ist Little Nell tot?» empfangen worden sein. Dickens selber litt Seelenqualen, als er den unvermeidlichen Tod seiner Heldin darstellen musste. Doch später wurde gerade dieser Teil des Romans von Kritikern am meisten getadelt. Oscar Wilde meinte, man «müsse ein Herz aus Stein haben, um bei Little Nells Tod nicht in Lachen auszubrechen».
Wer den Roman als realistische Fiktion liest, wird entweder wie Wilde mit mokantem Gelächter reagieren oder sein sentimentales Verlangen nach Kitsch befriedigt bekommen. Liest man ihn aber als ein musikalisch komponiertes Prosagedicht, wird man in der märchenhaftallegorischen Reise Little Nells etwas von der Allgemeingültigkeit des Mythos spüren. Dickens ist der große Mythenbildner unter den englischen Erzählern. Schon Mr. Pickwick und Oliver Twist hatten etwas von dieser mythischen Qualität. Für Little Nell und ihren Gegenspieler Quilp gilt das in noch stärkerem Maße. Wem es gelingt, die Sentimentalität auszublenden, der wird in den beiden Figuren vielleicht etwas sehen, was an Ariel und Caliban in Shakespeares
Sturm
erinnert. Dennoch ist nicht zu bestreiten, dass das Buch der im 19. Jahrhundert immer stärker werdenden Tendenz zum Kitsch bedenklich nahe kommt und nur durch Dickens’ Sprachkraft davor bewahrt wird.
Aus heutiger Sicht werden kritische Leser in Little Nells Flucht vor dem lüsternen Zwerg so etwas wie verdrängte Pädophilie vermuten und dabei das ungute Gefühl haben, dass Dickens hier die verklemmten Viktorianer mit latenter Erotik bedient. Dass in jener Zeit eine ungesunde Sexualmoral vorherrschte, die zu verschleierter Ersatzbefriedigung disponierte, steht außer Frage. Andererseits steht dem die tief verinnerlichte Sehnsucht nach Unschuld entgegen, auf die bereits im Eingangskapitel eingegangen wurde. Wer im Mutterland der industriellen Revolution auf Schritt und Tritt die Verschandelung der Natur vor Augen hatte, für den musste Unschuld etwas anderes bedeuten als die Geborgenheit in noch existierenden rauschenden Wäldern, wie sie Eichendorff besang, obgleich auch bei ihm schon die Angst vor dem Verlust des Paradieses mitschwingt.
Aufbruch zu
neuen Ufern
1841
Dem Abschluss des
Raritätenladens
folgte zwei Tage später am 8. Februar die Geburt des vierten Kindes und zweiten Sohns, der den Namen seines Paten Walter Savage Landor erhielt. Schon in der Woche danach erschien die erste Folge von
Barnaby Rudge
. Auch dieser Roman erschien in der Zeitschrift
Master Humphrey’s Clock
. Das Publikum, das etwas Ähnliches wie den vorangegangenen Roman erwartet hatte, reagierte enttäuscht. Die Auflage von anfangs 70.000 sank stetig und endete zuletzt bei 30.000. Besonders frustrierend war für Dickens, dass auch die Kritiker sein nach Thema und Komposition bis dahin ambitioniertestes Werk kaum zur Kenntnis nahmen. Der Grund war wohl der, dass der Roman nicht wie die früheren dem Vorbild Fieldings und Smolletts, sondern dem Sir Walter Scotts folgte, so dass ihm wesentliche Züge fehlten, die die Leser von Boz gewohnt waren. Dickens nahm die Enttäuschung hin und biss sich durch den widerspenstigen historischen Stoff, wobei vor allem sein Humor auf der Strecke blieb. Die wöchentlichen Fortsetzungen ebenso wie die monatlichen Zusammenfassungen erschienen unter dem Namen ‹Boz›, während die dreibändige Gesamtausgabe aller Hefte der Zeitschrift unter seinem richtigen Namen herauskam. Danach folgte noch eine einbändige Ausgabe des reinen Romantextes. Gleichzeitig mit der Publikation in der Wochenzeitschrift erschien der Roman in Amerika im Verlag Lea & Blanchard, der im Gegensatz zu anderen amerikanischen Verlagen, die das
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