Charles Dickens
seriösen Verlag Lea & Blanchard, mit dem er ein solches Abkommen hatte und der für die Fortsetzungsnummern einen fairen Preis zahlte, konnte aber nicht verhindern, dass in den USA bereits 1843 drei Raubdrucke seines laufenden Romans erschienen.
Seine Aktivitäten zu wohltätigen Zwecken setzte er bis zur Abreise nach Italien fort. So hielt er Reden vor Organisationen, die sich um das Los von Gouvernanten und um mittellose Künstler kümmerten. Im Juni 1844 machte er Werbung für Konzerte der 19-jährigen Pianistin Christiana Weller, die er in Liverpool kennengelernt und in die er sich offensichtlich verliebt hatte. Als sein Freund, der verwitwete Thomas James Thompson, ihm gestand, dass er Christiana ebenfalls liebte, war Dickens geschockt, unterstützte dann aber doch dessen Werben und vermittelte mehrfach zwischen den Verlobten, als es bei ihnen kriselte.
Als die letzte Fortsetzung von
Martin Chuzzlewit
fertig war, machte Dickens noch schnell einen Blitzbesuch bei Landor in Bath, kehrte nach London zurück, um eine Abschiedsparty zu geben, und dann war alles bereit für die längste Zeit von
dolce far niente
in seinem ganzen Leben. Dass es Italien sein musste, zeigt an, wie sehr er sich bereits dem Lebensstil der Gentry angenähert hatte. Seit dem 17. Jahrhundert war das Land der «Orangenhaine» ein fester Bestandteil der Grand Tour, mit der junge Gentlemen ihrer Allgemeinbildung den letzten Schliffgaben, bevor sie heirateten und eine gehobene Position in der Gesellschaft einnahmen. Dickens wollte nachholen, was er seinem Status schuldig zu sein glaubte, wobei auch der Wunsch mitgespielt haben wird, denen da oben zu zeigen, dass ein Mann aus dem Volke sich die gleiche Bildung wie die Aristokraten leisten konnte.
Italien hatte aber noch aus einem anderen Grund für Engländer eine irritierende Faszination. Als das katholische Land schlechthin war es seit der Reformation der kulturelle Gegenpol zum protestantischen England. In den Augen der Briten verkörperte es all das, was englischer Aufgeklärtheit entgegenstand. Seit Horace Walpole mit seinem Roman
The Castle of Otranto
(1764;
Die Burg von Otranto
) das populäre Genre der
Gothic novels
begründet hatte, war Italien der stereotype Schauplatz solcher Schauerromane. Einer von ihnen aus der Feder von Ann Radcliffe, der Großmeisterin des Genres, trug sogar den Titel
The Italian
(1797), wobei der Untertitel
The Confessional of the Black Penitents
(
Der Beichtstuhl der Schwarzen Büßer
) auf das katholische Milieu hinweist. Die Schauerromane prägten ein Italienbild, in dem zerklüftete Berglandschaften, Klöster, lüsterne Mönche, willfährige Nonnen, machtgierige Äbte, Banditen und Schurken aller Art typische Versatzstücke waren. Schon vor dem Aufkommen der
Gothic novels
hatten englische Sammler den neapolitanischen Maler Salvator Rosa (1615–73) mit seinen düster-makabren Bildern zu ihrem besonderen Liebling erkoren. Mehr als für andere Europäer hatte Italien für puritanisch geprägte Engländer den Reiz des Fremdartigen und Verbotenen. Für sie war eine Reise dorthin wie der Eintritt in ein von Kunst überquellendes Museum mit dem Hautgout eines Bordells. Es liegt auf der Hand, dass gerade Dickens, der seine Vorliebe für das Makabre bereits in seinem zweiten Roman bewiesen hatte, besonders empfänglich für solche Verlockungen gewesen sein musste. Im übrigen gab es für ihn aber auch ein ganz handfestes materielles Motiv: Italien war – zumal für Briten – ein billiges Reiseland, und ein längerer Aufenthalt dort bedeutete, anders als heute, keinen erhöhten Aufwand, sondern eher eine finanzielle Entlastung.
Martin Chuzzlewit
Dickens’ sechster Roman trägt den vollen Titel:
Leben und Abenteuer Martin Chuzzlewits, seiner Familie, seiner Freunde und Feinde: mit all seinen Wünschen und Wegen und einem historischen Bericht von dem, was er tat und was er nicht tat, darüberhinaus, wer das Familiensilber erbte, wer die silbernen Löffel und wer die hölzernen Kellen bekam: das Ganze als vollständiger Schlüssel zum Hause Chuzzlewit, herausgegeben von ‹Boz›.
Der Titel lässt einen Roman vom Typ
Nicholas Nickleby
erwarten. Formal ist er das auch; denn Dickens kehrt hier, nachdem er sich auf dem Felde Sir Walter Scotts versucht hatte, zur pikarischen Form von Fielding und Smollett zurück, die sich für die Publikation in monatlichen Fortsetzungen besonders gut eignete. An
Nicholas
N
ickleby
und
Pickwick
erinnert auch der Humor, der
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