Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Charles Dickens

Charles Dickens

Titel: Charles Dickens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Dieter Gelfert
Vom Netzwerk:
ihr Päckchen zu tragen. George hat einen Bruder, der sich in gefühlloser Verhärtung von der Familie abgewandt hat, und Milly musste mit dem frühen Tod eines Kindes fertig werden. Statt in Verbitterung zu versinken, kümmert sie sich um einen verwahrlosten Jungen aus den Slums und um den vereinsamten Studenten Edmund Denham, den Redlaw nur als stumme Gestalt in seinen Vorlesungen kennt. Auch eine andere Familie aus Redlaws Umkreis, die Tetterbys, die sich mit acht Kindern mehr schlecht als recht durchs Leben schlagen, scheint mit ihren Nöten ganz gut zurechtzukommen.
    Während der Professor vor dem Feuer sitzt und in die flackernden Flammen starrt – ein Motiv, das in Dickens’ Werken mehrfach wiederkehrt –, kommen in ihm die Erinnerungen an sein unglückliches Leben hoch, wie sein früherer Freund Longford, der mit seiner Schwester verlobt war, diese im Stich ließ und mit seiner eigenen Verlobten durchbrannte, worauf die verlassene Schwester aus Gram starb. In der zunehmenden Düsternis, die Redlaw umgibt, erscheint ihm ein Abbild seiner selbst als Phantom, das ihm seinen Wunsch nach Auslöschung der Erinnerung erfüllt, und nicht nur das: Der Geist verspricht ihm außerdem, dass alle, die mit ihm in Berührung kommen, das gleiche Geschenkerhalten werden. Doch das Geschenk erweist sich als Fluch; denn kaum hat Redlaw den nächsten Kontakt zu den Swigders und Tetterbys, brechen in den beiden Familien die sozialen Beziehungen zusammen. Die Angehörigen fangen an zu streiten und kümmern sich nur noch um sich selbst. Alle haben plötzlich die Erinnerung an eigenes Leid verloren, die bis dahin bewirkte, dass sie mit ihren Nächsten nachsichtig und verzeihend umgingen. Nur zwei Menschen bleiben von der Wirkung des Geschenks unberührt. Milly ist von Natur aus so warmherzig und gut, dass sie die «heilende» Wirkung der Erinnerung an erlittenes Leid nicht nötig hat; und der Junge aus den Slums hat in seiner totalen Verwahrlosung diese heilende Wirkung nie kennengelernt, so dass er sie auch nicht verlieren kann.
    Die Geschichte endet damit, dass Redlaw das Geschenk zurückgibt und sich mit Milly daran macht, die zerrissenen Fäden in den Familien wieder zusammenzufügen. Alle finden dank «heilender» Erinnerung wieder zu ihrem besseren Ich zurück. Für Redlaw nimmt die Erinnerung an seine Vergangenheit konkrete Gestalt an, als sich herausstellt, dass der Student Edmund Denham in Wirklichkeit Longford heißt und der Sohn seiner einstigen Verlobten ist. Dann taucht auch noch der alte Longford selber auf, der lange vorher Frau und Kind verlassen hatte und jetzt reumütig zurückkehrt und Redlaw um Verzeihung bittet.
    Aufklärung verdrängter Vergangenheit ist ein Grundthema, das in Dickens’ späteren Romanen immer stärker ins Zentrum rückt und mit immer komplexeren Mitteln bildhaft zum Ausdruck gebracht wird. Doch es geht dabei nie um ein bloß rationales Aufdecken von Verdrängtem, sondern um dessen emotionale Akzeptanz. Deshalb stellt Dickens der kalten Rationalität des Chemieprofessors Millys Herzensgüte als die wahre Form von Aufklärung gegenüber, die er nicht als geistige Erleuchtung im Sinne von
enlightenment
– das englische Wort für ‹Aufklärung› taucht in der Geschichte in der Formel
struggle for enlightenment
auf –, sondern als Herzenserwärmung versteht. Dickens muss gespürt haben, dass er dieses Grundthema nicht länger in der parabolischen Form einer Weihnachtserzählung ausdrücken konnte. Deshalb blieb diese die letzte, auch wenn er danach noch weitere kurze
Christmas stories
schrieb.

Der autobiographische
Roman
1849 und 1850
    Nach dem Abschluss von
The Haunted Man
brauchte Dickens ein neues Romanprojekt. Der Tod der Schwester und das Erinnerungs-Thema der Weihnachtsgeschichte scheinen seine Gedanken auf ein autobiographisches Werk gelenkt zu haben. Vielleicht hatte ihm aber auch der unerwartete Erfolg von Charlotte Brontës Ich-Roman
Jane Eyre
angezeigt, dass anspruchsvolle Leser nach einer subjektiveren, psychologisch differenzierteren Erzählweise verlangten. Jedenfalls nahm er sich jetzt das autobiographische Fragment, das er Forster gezeigt hatte, wieder vor und ließ es zur Keimzelle des neuen Romans werden. Als er am 7. Januar 1849 mit John Leech und Mark Lemon einen Kurztrip nach Norfolk unternahm, beeindruckte ihn die spröde Küstenlandschaft um Yarmouth so sehr, dass er nach der Rückkehr am 12. Januar an Forster schrieb, er wolle seine Feder an «diesem seltsamsten

Weitere Kostenlose Bücher