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Charles Dickens

Charles Dickens

Titel: Charles Dickens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Dieter Gelfert
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Zeitschrift. Als ihm im Sommer alles über den Kopf zu wachsen drohte, flüchtete er kurzerhand mit Maclise für neun Tage in das glutheiße Paris, wobei ihn die Hitze nicht davon abhielt, abermals der Morgue einen Besuch abzustatten und seiner Frau darüber zu berichten. Nach der Rückkehr folgte der alljährliche Urlaub in Broadstairs, den Catherine unterbrechen musste, um am 16. August zu Hause ihr neuntes Kind, die Tochter Dora Annie, zur Welt zu bringen. Weshalb Dickens das Kind nach der vom Tode gezeichneten Dora in
David Copperfield
benannte, die er dort schon einen Monat später sterben ließ, bleibt ein Rätsel. Was mag in ihm vorgegangen sein, als acht Monate später auch seine Tochter starb?
    Schon kurz nach der Geburt der Tochter ging es zurück nach Broadstairs. Am 23. Oktober, dem Vorabend der Rückkehr in das Londoner Heim, war das letzte Kapitel des Romans fertig. In einem Vorwort deutete Dickens in verhüllter Form an, dass er darin ein Stück seines eigenen Lebens erzählt habe. Doch dass Davids Erniedrigung in Murdstones Weinhandlung sein eigenes Trauma beschreibt, hat wohl keiner seiner Leser geahnt. Auch nach Abschluss dieses Romans musste er die innere Leere mit einer Theateraufführung füllen. Am 14. November reiste er zu Bulwer-Lytton, um in dessen Schloss
Every Man in His Humour
aufzuführen, was er wenig später bei den Watsons auf Rockingham Castle wiederholte. Auch seine Frau war dafür als Schauspielerin vorgesehen. Doch ein verstauchter Knöchel verhinderte ihre Teilnahme.
     
David Copperfield
    Es ist paradox, dass ausgerechnet der Roman, der sich in seinem Grundcharakter von Dickens’ übrigen Werken deutlich abhebt, von der weltweiten Dickens-Gemeinde am höchsten geschätzt und als besonders typisch für ihn angesehen wird. Die Berechtigung dazu gibt Dickens selber, der den Roman mehrfach als seinen besten und liebsten bezeichnet hat. Gewiss finden sich auch hier typische Beispiele für seinen Humor und für seinen Hang zum Makabren; doch im Unterschied zu den anderen Romanen fehlt das komplexe mehrsträngige Handlungsgewebe, und das detektivische Moment spielt darin eine untergeordnete Rolle. Dass Dickens in seinem Helden ein Stück von sich selber offenbart, wird schon durch die umgestellten Initialen des eigenen Namens nahegelegt. Über eine kurze Strecke enthält das Buch sogar fast wortgetreue Passagen aus jenem autobiographischen Fragment, aus dem am Anfang dieser Biographie zitiert wurde. Wie sehr sich Dickens dabei selbst nach so langer Zeit noch scheute, das traumatische Erlebnis in seiner ganzen Härte zu schildern, ist daran abzulesen, dass er aus der Schuhwichsfabrik eine Weinhandlung macht, in der David Etikette auf Flaschen kleben muss. Das lässt seine Arbeit als nicht ganz so erniedrigend erscheinen. Auch dass er in Mr. Micawber seinen Vater als einen gutmütigen, lebensuntüchtigen Traumtänzer porträtiert, während er in ihm in Wirklichkeit einen verantwortungslosen Egoisten sah, entschärft die traumatische Erinnerung.
    Alles in allem passt der Roman eher in die Tradition des europäischen Realismus als zu den übrigen Werken des Autors. Anders als deren Helden wird David nicht in ein «ererbtes» Schicksalsnetz hineingeboren, sondern betritt die Welt wie Tom Jones als eine
tabula rasa
, die anfangs mit dunklen Farben beschrieben wird, sich dann aber, nachdem David das gefängnishafte Haus seines Stiefvaters Murdstone hinter sich gelassen hat, zunehmend aufhellt. Während es bei den anderen Helden um die Emanzipation von einem aus der Vergangenheit auf sie einwirkenden Kausalgeflecht geht, entwickelt sich David in die Zukunft hinein, indem er seine Persönlichkeit und seine künstlerischeKreativität entfaltet. Insofern ist das Buch ein typischer Entwicklungsroman. Man könnte sogar von einem Bildungsroman sprechen, wenn Davids Werdegang als Schriftsteller am Schluss nicht so beiläufig erwähnt würde. Trotzdem geht es auch hier um die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, da David sein Leben im Rückblick erzählt.
    Im Mittelpunkt der Handlung stehen nacheinander Davids erste Liebe zu Little Em’ly, seine Freundschaft zu Steerforth, dem faszinierenden, aber innerlich haltlosen Abenteurer, seine unbedachte Ehe mit der unreifen Kindfrau Dora, die schließlich stirbt, und danach seine Werbung um Agnes, den sanften «Engel im Haus», die er zuerst nur wie eine Schwester liebte und verehrte. Reduziert man den Roman auf das nackte Handlungsgerüst, bleiben

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