Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Charles Dickens

Charles Dickens

Titel: Charles Dickens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Dieter Gelfert
Vom Netzwerk:
typische Beziehungsprobleme. Doch auf diesem Felde waren Dickens die realistischeren Zeitgenossen wie Thackeray und Anthony Trollope überlegen. Ihm fehlte die Fähigkeit, die komplexe Mechanik der menschlichen Psyche auch unter dem Grauschleier des Alltags freizulegen. Deshalb erinnern sich die Leser des Romans weniger an Davids Beziehung zu Dora und Agnes als vielmehr an skurrile und makabre Figuren wie den Lebenskünstler Micawber oder den kaltherzigen Murdstone, an die warmherzige Peggotty und ihren wortkargen Verehrer Barkis, an den schleimigen Kriecher Uriah Heep und seine feuchtkalten Hände, und nicht zuletzt an Davids Tante Betsey Trotwood und ihren geistig behinderten Hausgenossen Mr. Dick, den sie wie eine intellektuelle Autorität behandelt. Die hier genannten Figuren repräsentieren jene Dickens-Welt, die man von seinen Romanen gewohnt ist, nur dass sie sich in diesem Fall von der realistisch erzählten Entwicklung des Helden stärker abheben als in den übrigen Werken.
    Lässt man den Roman aber aus größerer Distanz vor dem geistigen Auge Revue passieren, wird man rasch merken, dass er trotz seiner Andersartigkeit eine Reihe typischer Dickens-Motive enthält. So gibt es auch hier als Gegenpol zu dem gefängnishaften Haus, in dem David mit seiner Mutter bei dem Stiefvater wohnen muss, die Sphäre des Wassers in Gestalt der Nordsee, in der Steerforth ertrinkt. Später wiederholt sich dieser Bildkomplex noch einmal in einer Weise, die stark an
Oliver Twist
erinnert. Wie dort das Geheimnis um Olivers Mutter vor einem Hintergrund gelüftet wird, in dem Gefängnis- und Wasserbilder in einer Engführung an der nächtlichen Themse zusammenkommen, sowird auch in
David Copperfield
das Auffinden von Little Em’ly, dem gefallenen Mädchen, von einer solchen Bildsequenz begleitet. Sie beginnt mit dem düsteren Haus von Mrs. Steerforth, in dem versierte Dickensleser die Vorform von Miss Havishams Satis House in
Große Erwartungen
erkennen werden. Sie setzt sich fort mit der nächtlichen Themse, an deren Ufer David die Prostituierte Martha trifft, um von ihr den Aufenthalt Little Em’lys zu erfahren. Und sie führt zurück zu dem heruntergekommenen Haus, in dem Em’ly schließlich gefunden wird.
    Aus der Distanz wird man auch erkennen, dass diese Bildkonfiguration von einer analogen Charaktertypologie der Figuren begleitet wird. Da sind auf der einen Seite die kalten, in sich erstarrten Menschen wie Murdstone, Mrs. Steerforth und Rosa Dartle, die den gefängnishaften Häusern zugeordnet sind, und auf der anderen die haltlos Treibenden wie Steerforth, Em’ly und Martha, deren symbolischer Hintergrund das Wasser ist. Selbst ein detektivisches Moment dringt am Schluss in die Handlung ein, als Uriah Heep eine Intrige spinnt, um den gutwilligen, aber willensschwachen Rechtsanwalt Wickfield zu erpressen, damit er ihm seine Tochter Agnes zur Frau gibt. Dieses Komplott wird von Micawber aufgedeckt, so dass sich zuletzt alles zum Guten wendet. Em’ly und Martha emigrieren nach Australien, David heiratet nach dem Tode Doras die sanfte Agnes; und die moralischen Extreme der inneren Erstarrung und der Haltlosigkeit sind durch den Tod ihrer Repräsentanten Murdstone und Steerforth überwunden.
    Der psychologisch interessanteste Charakter ist zweifellos Steerforth, dessen Faszination sich weder David noch die Frauen entziehen können. Seine literarische Ahnenreihe ist leicht nachzuzeichnen. Er ist das, was die Literaturwissenschaft einen «byronischen Helden» nennt, weil Byron den Typus nicht nur in seinen Werken populär machte, sondern ihn selber als lebenslange Rolle spielte. Aber auch Byron stand in einer noch älteren Tradition, die in die Schauerromane, die so genannten
Gothic novels
, zurückreicht. Letzten Endes lässt sich die Ahnenreihe bis auf Miltons Luzifer zurückverfolgen. Damit ist aber schon die Richtung bezeichnet, in der sich der Typus von dort aus entwickelte. Aus dem Empörer gegen Gott wurde im Schauerroman ein satanischer Bösewicht und danach bei Byron ein Zyniker, der sich in weltschmerzlicher Pose gefiel und sich die Aura eines vom Kainsmal Gezeichnetengab. Byrons Heldentypus fand in ganz Europa Nachahmer. Vor allem in Russland sahen Dichter wie Puschkin und Lermontow in Byron einen Geistesverwandten. Deshalb stieß Dickens Figur dort bei Lesern, die zehn Jahre zuvor Lermontows
Ein Held unserer Zeit
gelesen hatten, auf besonders großes Interesse. Steerforth ist ein byronischer Held, der sowohl die

Weitere Kostenlose Bücher