Charles Dickens
noch heute erschauern lassen. Er spricht darin von einem «Schlachthaus» und spart nicht mit Anerkennung für die heroische Tapferkeit, mit der sein Vater die Qualen ertrug. Doch die Heilung blieb aus und der Vater starb am 31. März. An seinem Totenbett stiegen – jenseits des Grolls, den er damals in der Schuhwichsfabrik gegen ihn empfunden hatte, und jenseits des Ärgers, den ihm seine erschlichenen Kredite später bereiteten – ältere und freundlichere Erinnerungen in ihm auf. In einem Brief an Forster beschreibt er, wie in seiner frühen Kindheit der Vater Tag und Nacht am Krankenbett seines Sohnes gewacht habe.
Zwei Wochen später traf Dickens der nächste Schlag. Am 14. April starb die kleine Dora. Die traurige Botschaft wurde ihm von Forster und Lemon unmittelbar nach einem Dinner des
General Theatrical Fund
überbracht, wo Dickens eine um Spenden werbende Rede gehalten hatte. Er brachte es nicht übers Herz, seiner Frau das ganze Unglück mitzuteilen, und schickte statt dessen Forster mit einem Brief zu ihr, in dem er so schreibt, als lebe das Kind noch, sei aber so krank, dass er keine Hoffnung mehr habe. Catherine brach daraufhin ihre Kur sofort ab und kehrte nach London zurück, wo sie die traurige Wahrheit erfahren musste. Zum Glück hatte sich ihr nervlicher Zustand soweit stabilisiert, dass sie wieder ihren Alltagspflichten nachkommen konnte. Am 18. April wurde Dora beerdigt, und eine Woche später war Dickens wieder voll eingespannt.
Jetzt musste er die Premiere von Bulwer-Lyttons Komödie
Not so Bad As We Seem (Nicht so schlecht, wie wir erscheinen)
vorbereiten, die in Anwesenheit von Königin Viktoria und Prinzgemahl Albert in Devonshire House, der Stadtresidenz des Herzogs von Devonshire, stattfinden sollte. Die ursprünglich für den 1. Mai angekündigte
Royal Gala Performance
war auf Dickens’ Bitte wegen der Todesfälle auf den 16. Mai verschoben worden. Gleich nach der Beerdigung seiner Tochter stürzte er sich indie Vorbereitung der Aufführung, überwachte den Aufbau der Bühne und schrieb zusammen mit Lemon sogar noch die Farce
Mr. Nightingale’s Diary
, die sich als zugkräftige Lachnummer erwies, als sie am 27. Mai im Anschluss an die zweite Aufführung von Bulwer-Lyttons Komödie aufgeführt wurde. Die Galavorstellung war ein voller Erfolg. Die Königin zahlte selber für ihr Ticket 50 Pfund und legte noch 150 Pfund für den Künstlerfonds drauf, der insgesamt 2500 Pfund einnahm. Bei der Vorbereitung der Theateraufführung hatte Dickens zum ersten Mal den jungen Schriftsteller Wilkie Collins kennengelernt, der in dem Stück eine kleine Rolle übernahm. Dickens betrachtete den zwölf Jahre jüngeren Kollegen, der zu der Zeit erst einen wenig erfolgreichen historischen Roman vorzuweisen hatte, zunächst als einen literarischen Ziehsohn und nahm ihm gegenüber die gönnerhafte Rolle des Protektorsein. Fünf Jahre später sollte daraus eine immer enger werdende Freundschaft hervorgehen.
Tavistock House, wo Dickens von November 1851 bis September 1860 wohnte. Zeitgenössischer Stich.
Nach dem Festessen, mit dem die Galavorstellung zu Ende ging, begab sich Dickens nach Broadstairs, wo die Familie bereits auf ihn wartete. Es wurde sein letzter Sommerurlaub dort; denn inzwischen war er so populär, dass er im Süden Englands kaum noch einen Urlaubsort finden konnte, wo er vor seinen Fans sicher war. Deshalb flüchtete er von da an meist in Urlaubsorte jenseits des Kanals. Von Broadstairs aus kümmerte er sich gewissenhaft um seine Zeitschrift und schrieb mit wachsendem Vergnügen an den zunächst als Pflichtübung empfundenen Beiträgen zur Geschichte Englands.
Sein Hauptproblem war aber die Suche nach einem neuen Heim. Der Zufall wollte es, dass sein alter Freund Frank Stone aus Tavistock House in Bloomsbury in das Nachbarhaus umzog, so dass Dickens die noch für 45 Jahre geltende Pacht für das freiwerdende Haus übernehmen konnte. Am 25. Juli erwarb er den Pachtvertrag für 1542 Pfund. Das neue Domizil war ein großes Stadthaus mit 18 Zimmern, darunter ein Schulraum, den Dickens schon bald für private Theateraufführungen nutzte. Er ließ das Haus aufwändig herrichten und den Bedürfnissen seiner Familie anpassen, wobei er sich auf den Sachverstand seines Schwagers Henry Austin verließ, der ein gelernter Architekt mit künstlerischem Talent war. Während Catherine in Broadstairs an ihrem Kochbuch schrieb, pendelte Dickens zwischen London und dem Urlaubsort hin und her,
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