Charles Dickens
Züge des Satanischen als auch die Aura des Aristokratischen verloren hat und nur noch ein innerlich haltloser, dies aber mit Zynismus überspielender und deshalb charismatisch wirkender bürgerlicher Mann ist. Immerhin hat er noch das Kraftvolle eines Abenteurers, während die nächsten in der Typenreihe melancholische Schwächlinge oder Selbstbewusstsein vortäuschende Dandys sind. Ein solcher geschwächter Nachfahr Steerforths ist Eugene Wrayburn in Dickens’ letztem vollendeten Roman. Die gleiche typologische Entwicklung lässt sich in der gesamten europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts beobachten.
Da David sich von Steerforth innerlich auch dann nicht distanzieren kann, als er dessen skrupelloses Handeln erkennen muss, entsteht der Eindruck, als habe sich Dickens in dem Freundespaar ein doppeltes
alter ego
geschaffen. Psychologisch ist diese Vermutung nicht abwegig; denn Davids eher passive Entwicklung konnte für Dickens nicht jenes Machtstreben ausdrücken, mit dem er selber sein Leben lang die Erinnerung an seine Ohnmacht in der Schuhwichsfabrik kompensierte. Da wird es ihm nicht schwergefallen sein, sich in den herrischen Steerforth wie in ein heimliches Idol einzufühlen, in einen Mann, der seine Mitmenschen allein durch seine Persönlichkeit so faszinieren konnte, wie er selber es durch seine Erzählkunst, später auch als Schauspieler und zuletzt als Rezitator eigener Texte vermochte. In seinen Romanen blieb Steerforth aber die einzige Figur, in der man eine solche positive Identifikation mit kraftvoller Männlichkeit spürt. Alle übrigen Helden, zumal in den späteren Romanen, sind Leidende, was vermuten lässt, dass Dickens in ihnen sein latentes Selbstmitleid ausagiert.
David Copperfield
, um es noch einmal zu betonen, kommt von allen Dickens-Romanen dem Mainstream des europäischen Realismus am nächsten. Die danach folgenden Werke wirken nicht mehr wie realistische Fiktionen, sondern wie Prosagedichte, deren Kompositionsprinzip an musikalische Werke erinnert. Schon der nächste wird wie eine Oper mit einer symbolischen Ouvertüre eröffnet.
Tavistock House
1851 bis 1853
Das Jahr 1851 begann mit der nachgeholten Theateraufführung in Rockingham Castle, die ursprünglich vor den Aufführungen in Schloss Knebworth stattfinden sollte, aber auf Bitten des Hausherrn verschoben worden war. Zu diesem Zweck reiste Dickens am 7. Januar mit seiner Frau zu den Watsons, wo die drei Farcen am 15. Januar aufgeführt wurden. In einer von ihnen durfte auch Catherine mitspielen. Es war das Stück
Used Up!
des irischen Dramatikers Boucicault, in dem sie die Rolle der Lady Maria Clutterbuck übernahm. Diesen Namen wählte sie als Pseudonym, als sie Ende des Jahres ihr erstes und einziges Buch publizierte, das den Titel trug:
What Shall We Have For Dinner? Satisfactorily answered by numerous bills of fare for from two to eighteen persons (Was sollen wir auf den Tisch bringen? Zufriedenstellende Antworten in Form von Speiseplänen für zwei bis 18 Personen)
. Das bescheidene Autorenglück dürfte für die von regelmäßigen Schwangerschaften erschöpfte und von einem ruhelosen Ehemann mitgerissene Frau kaum ein Trost für das gewesen sein, was sie während des Jahres 1851 durchmachen musste.
Im Februar wurde ihre erst sechs Monate alte Tochter Dora schwer krank. Das hielt ihren Mann nicht davon ab, mit Leech und einem anderen Freund einen fünftägigen Urlaub in Paris zu machen. Nach seiner Rückkehr hatte Catherine einen Nervenzusammenbruch. Schon in früheren Jahren hatte sie wiederholt über Druck- und Schwindelgefühle im Kopf geklagt. Jetzt wurden ihre nervösen Beschwerden so heftig, dass Dickens sie zur Badekur nach Malvern brachte. Dort besuchte er sie zweimal wöchentlich und zeigte sich sehr besorgt um sie. Er mietete sogar eine Wohnung am Ort und plante, einige der Kinder zur Mutter zu schicken.
Während er in London an seiner Zeitschrift arbeitete, für die er inFortsetzungen das auf drei Jahre angelegte Unternehmen
A Child’s History of England (Eine Geschichte Englands für Kinder)
zu schreiben begonnen hatte, und während er gleichzeitig nach einem neuen Haus suchte, weil der Pachtvertrag für Devonshire Terrace auslief, traf ihn neues Unglück. Am 25. März hatte sein Vater eine so heftige Blasenkolik, dass die Ärzte keine andere Möglichkeit sahen, als eine Operation ohne Anästhesie bei ihm vorzunehmen. Dickens beschrieb die blutige Prozedur in einem Brief mit Worten, die den Leser
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