Charles Dickens
atmen und eine Sehnsucht nach jüngerer und attraktiverer Gesellschaft bewirkt zu haben, die er mit der Wiederaufnahme seines Theaterprojekts befriedigen wollte.
Klein-Dorrit
Mit diesem Roman nimmt Dickens die Form wieder auf, die er in
Bleak House
zum ersten Mal konsequent entwickelt hatte. Wie dort beginnt er auch hier mit einer symbolischen Ouvertüre, in der die zentralen Themen und Motive angekündigt werden. Sprachlich bedient er sich dabei eines stilistischen Mittels, das er vorher bereits hin und wieder eingesetzt hatte, hier aber, und später noch öfters, zum Extrem treibt. Es ist die Wiederholung eines bestimmten Wortes, mit dem ein atmosphärisches Bild immer stärker intensiviert und symbolisch aufgeladen wird. In diesem Fall ist es das Wort
stare
, ‹starren›. Die Ouvertüre beschwört ein Bild von gleißender Mittagshitze, die auf der Stadt Marseille und dem Mittelmeer liegt. Die Häuser, die Straßen, die Landschaft und selbst das Wasser: alles scheint vor grellem Licht zu «starren». Dann folgt als Gegenbild die Beschreibung eines Gefängnisses, in dem zwei Häftlinge ein langes, kryptisches Gespräch führen. Am Schluss des Kapitels kehrt das Motiv wieder, wenn gesagt wird, dass es sich ausgestarrt habe. Die Sonne geht unter, und der letzte Satz endet mit den Worten: «… und ein so tiefes Schweigen lag über dem Wasser, dass es kaum etwas flüsterte von der Zeit, zu der es seine Toten herausgeben wird». Damit meldet sich auch hier das ominöse Erbschaftsmotiv.
Was – metaphorisch gesprochen – unter dem gleißenden Meeresspiegel liegt, wird im Verlauf des Romans ans Licht geholt und erweist sich als ein dichtes Netz, in das fast alle auftretenden Figuren direkt oder indirekt verstrickt sind. Einer der beiden Gefängnisinsassen, der Mörder Rigaud (alias Blandois, alias Lagnier) wird dabei als Manipulator fungieren, der sich Kenntnis der verborgenen Geheimnisse verschafft, um sie durch Erpressung zu Geld zu machen. Sein Gegenspieler auf der positiven Seite ist der im zweiten Kapitel eingeführte Arthur Clennam, der wie ein Detektiv versucht, das verborgene Geflecht freizulegen, das wie ein Krankheitsherd sein Leben vergiftet hat. Nach 20 Jahren geschäftlicher Tätigkeit in China kehrt er über Marseille zurück nach London, wo in einem düsteren, gefängnisartigen Haus seine gelähmte Mutter haust. Später wird sich herausstellen, dass er gar nichtihr Sohn ist, sondern von seinem Vater außerehelich gezeugt wurde. Seine vermeintliche Mutter rächte sich an ihm für den Betrug, indem sie ihn mit äußerster Kälte aufzog, während seine natürliche Mutter in Wahnsinn verfiel und starb.
Der Onkel seines Vaters, der dessen lieblose Ehe um des Geldes willen arrangiert hatte, hinterließ aus schlechtem Gewissen ein Testament, in welchem er der jüngsten Tochter oder Nichte des Mannes, der sich um die Wahnsinnige bis zu ihrem Tod gekümmert hatte, ein Legat von 1000 Pfund hinterließ. Dieser barmherzige Mann war Frederick Dorrit, dessen Bruder William seit über 20 Jahren im Marshalsea-Gefängnis in Schuldhaft sitzt. Williams Tochter Amy, die im Gefängnis geboren wurde und von allen nur Klein-Dorrit genannt wird, ist ohne ihr Wissen die Begünstigte des Testaments, das von Mrs. Clennam unterschlagen wurde und erst durch ihren Sohn Arthur aufgedeckt wird. Da auch Arthur im Haus seiner vermeintlichen Mutter wie in einem Gefängnis aufwuchs, repräsentieren er und Klein-Dorrit zwei um ein Gefängnis kreisende Handlungsstränge, die durch die Erbschaft verbunden sind. Dickens entwickelt die beiden Stränge so, dass sie sich immer mehr ineinander verschlingen, wobei er eine Fülle weiterer Figuren mit entsprechenden Nebenhandlungen in das labyrinthische Gewebe einflicht.
Die eindrucksvollste Figur ist Amys Vater, der von den Gefängnisinsassen respektvoll «Vater des Marshalsea-Gefängnisses» genannt wird. In ihm hat Dickens die Schuldhaft seines Vaters ins Mythische überhöht, indem er aus dessen drei Monaten eine Haftzeit von über zwanzig Jahren macht. Der alte Dorrit ist ein lebensuntüchtiger Egoist, der seine Mitmenschen ausnutzt und sich für etwas Besseres hält, gleichzeitig aber etwas von der tragischen Aura eines König Lear an sich hat. Zahlreiche weitere Personen treten als Repräsentanten bestimmter Themen auf. Da ist der betrügerische Finanzspekulant Merdle, dessen Bankrott zuletzt dazu führt, dass Arthur Clennam und Little Dorrit ihr ganzes Geld verlieren. Sein positives
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