Charles Dickens
Gegenbild ist der ehrliche Erfinder und Unternehmer Doyce, an dessen Firma Arthur beteiligt ist. Daneben gibt es den dandyhaften Zyniker und Glücksritter Henry Gowan, in dem der Leser unschwer eine Familienähnlichkeit mit Steerforth erkennen wird. Ihm steht als anderes Extrem die von ihm betrogene, hasserfüllte und in sich erstarrte Miss Wade gegenüber, die der von Steerforth verschmähten Rosa Dartle ähnelt.
Wenn in den beiden Haupthandlungen ein Gefängnis im Zentrum steht, wo bleibt dann das Gegenbild des Wassers, das in der Ouvertüre eingeführt wird? Wer mit Dickens’ bildhaftem Denken vertraut ist, wird es im dritten Handlungsstrang entdecken, der um das
Circumlocution Office,
das «Weitschweifigkeitsamt», kreist. Dickens hat hier in satirischer Absicht das Bild einer Behörde entworfen, deren einziger Zweck darin besteht, sich selbst zu verwalten. Doch das Amt ist mehr als bloße Satire. Die Sippe, die es kontrolliert, heißt Barnacle.
Barnacles
sind Entenmuscheln, die sich am Rumpf eines Schiffes festsetzen und seine Fahrt behindern. Damit erscheint das Amt als ein unproduktives, im Wasser treibendes Schiff und evoziert somit die gleiche Sphäre wie in
Bleak House
der im Nebel treibende Kanzleigerichtshof.
Arthur Clennam und Amy Dorrit sind die beiden positiven Protagonisten, die sich auf der einen Seite gegen das Gefängnis und auf der anderen gegen das haltlose Treiben der Barnacle-Welt behaupten. Am Schluss des Romans, als die letzten Fasern des «ererbten» Geflechts ans Licht gezogen werden und die «Erbsünde» der Clennam-Familie aufgedeckt wird, springt Mrs. Clennam aus ihrem Rollstuhl, den sie seit fünfzehn Jahren nicht mehr verlassen hat, und stürzt auf die Straße, während hinter ihr das gruftartige Haus zusammenstürzt und Blandois, der in erpresserischer Absicht das Geheimnis des Testaments offenbarte, unter sich begräbt. Der Roman endet mit der Verbindung von Arthur und Amy, die beide ihre Gefängnisse gesprengt und sich von ihrer Erbschaft emanzipiert haben, wenngleich sie ihr ganzes Geld verloren haben. Dass Dickens in seinen Romanen so oft den Verlust des Vermögens als ethischen Gewinn darstellt, ist ein Zugeständnis an die viktorianische Moral, die er selber so verinnerlicht hat, dass er sie guten Gewissens propagieren konnte, obwohl er gleichzeitig in seinem bürgerlichen Leben ohne schlechtes Gewissen ein rigoroses Gewinnstreben praktizierte.
Während der Roman beim Publikum ein großer Erfolg war, reagierte die Kritik beim ersten Erscheinen eher kühl bis negativ. In einer der führenden Zeitschriften wurde er sogar als der bis dahin schlechteste des Autors bezeichnet. Aus damaliger Sicht sind beide Urteile verständlich. Leser, die eine spannende Handlung mit moralischer Botschaft erwarteten, kamen mit der tugendhaften Titelheldin auf ihre Kosten, während Kritiker, die ein realistisches Bild sozialer Verhältnisseund eine glaubhafte Psychologie verlangten, enttäuscht sein mussten. Das viktorianische Publikum erwartete von Literatur eine therapeutische Einstellung zur Wirklichkeit. Die lieferte Dickens mit seinem positiven Heldenpaar. Doch anspruchsvollere Leser lud der von Selbstzweifeln geplagte, zwischen Schwäche und verzweifelter Willensanstrengung hin und her schwankende Arthur nicht zur Identifikation ein. Auch die unerschütterliche Demut, mit der Little Dorrit ihre Rolle als Aschenputtel ausfüllt, befriedigte nur die sentimentale Sehnsucht des Bürgertums nach vorbildlicher Moral. Die einzige uneingeschränkt positive Figur ist der tatkräftige und warmherzige Erfinder Doyce, der es Arthur verzeiht, dass er das Betriebsvermögen des gemeinsamen Unternehmens durch eine Fehlspekulation verspielte.
Eine andere Figur, die der Leser in Erinnerung behält, weil sie durch ihre Vitalität aus einer von Lemuren dominierten Welt hervorsticht, ist ironischerweise Flora Finching, die Dickens ursprünglich als Lachnummer geplant hatte. In dieser geschwätzigen, von Selbstzweifeln unbeleckten und von Torheit überquellenden Jugendliebe Arthurs, die dieser nach 20 Jahren als Witwe wiedersieht, hat sich Dickens die eigene Desillusionierung durch die Wiederbegegnung mit Maria Beadnell von der Seele geschrieben. Doch was als Satire geplant war, wurde eine komische Figur, in der Dickens’ Humor, der ansonsten in diesem Roman weitgehend fehlt, voll zum Zuge kommt.
Erst in neuerer Zeit setzte sich die Erkenntnis durch, dass gerade das, was die zeitgenössische Kritik als
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