Charles Dickens
Gad’s Hill zuFuß zurücklegte. Unmittelbar danach schrieb er an Anne Cornelius, seine Haushälterin in Tavistock House, dass sie seinen Ankleideraum als Schlafzimmer für ihn herrichten solle. Der Auszug aus dem ehelichen Schlafgemach war der erste Schritt zur Trennung.
Eine Woche später stellte er seiner Frau den letzten Scheck für die Haushaltskasse aus, während er zur gleichen Zeit dem Manager des Haymarket-Theaters einen Scheck übersandte, um damit ein Engagement für Miss Ternan zu erwirken. In einem Begleitbrief bringt er sein Interesse an der jungen Schauspielerin unverhüllt zum Ausdruck. Von da an schrieb er Briefe an Freunde, auf deren Sympathie er zählen konnte, und setzte sie – zunächst noch andeutend und in Ironie verpackt, dann immer direkter und mit zunehmender Ungerechtigkeit gegenüber seiner Frau – von seiner ehelichen Misere in Kenntnis. Es mutet wie eine makabre Koinzidenz an, dass er in dieser Phase die in den fiktiven Reisebericht eingelegte Geschichte
The Bride’s Chamber (Die Kammer der Braut)
schrieb, in der ein Mann seine wesentlich jüngere Braut, die er als Vormund zu totaler Abhängigkeit erzogen hatte, ihres Geldes wegen durch seelische Grausamkeit tötet, indem er ihr zu sterben befiehlt. Später tötet er sogar noch einen jungen Mann, der sich in das Mädchen verliebt hat und den Sadisten des Mordes beschuldigt. Nach Jahren bringt ein Blitzschlag die vergrabene Leiche mit dem Messer im Kopf ans Tageslicht, und der Täter wird daraufhin für den Doppelmord zur Rechenschaft gezogen. Dass das Opfer des Sadisten Ellen heißt, gibt Rätsel auf.
Die Liebe zu Nelly, wie Ellen Ternan von Dickens genannt wurde, zeigt unübersehbare Spuren in seinem Werk. Bis dahin gab es in seinen fiktionalen wie in seinen privaten Äußerungen zwei charakteristische Tendenzen, die sich als Selbstmitleid und Selbsterhöhung bezeichnen lassen, wobei die erste Tendenz wesentlich stärker zum Ausdruck kam als die zweite. Das Selbstmitleid, das seine Wurzel in der Leidenszeit in der Schuhwichsfabrik hat, erscheint objektiviert in leidenden Kindergestalten wie Oliver Twist, Smikes in
Nicholas Nickleby
, Little Nell, Barnaby Rudge, Paul Dombey und dem Straßenjungen Jo in
Bleak House
. Die andere Tendenz ist nur latent zu spüren, was verständlich ist, da Dickens schon früh die «Spitze des Baums» – wie Thackeray es nannte – erklommen hatte. Sie äußert sich unter anderem darin, dass das Dick Whittington-Motiv in seinen Werken gelegentlich anklingtund in
Dombey und Sohn
explizit mit Bezug auf Walter Gay genannt wird. Whittington war ein legendärer Bürgermeister Londons aus dem frühen 15. Jahrhundert, der es aus einfachsten Verhältnissen zu hohen Ehren gebracht hatte. Selbstmitleid und Selbsterhöhung sind Tendenzen, die vor allem bei Jugendlichen beobachtet werden, wie man aus der jugendpsychologischen Forschung weiß. Das erklärt, weshalb sich unter Dickens’ Romangestalten kaum solche befinden, die den Eindruck von Reife vermitteln. Seine älteren Charaktere sind teils trotzig verhärtete, teils haltlos treibende oder aber kauzige Sonderlinge, aber sie wirken nicht wie reife Erwachsene.
Mit dem Theaterstück
The Frozen Deep
tritt ein neues Motiv, das des heroischen Selbstopfers, in Dickens’ Werk ein. In dem Stück nehmen zwei Männer, von denen der eine dem andern die Geliebte abspenstig gemacht hat, an einer Polarexpedition teil, auf der der glücklichere Bewerber umzukommen droht; doch sein Rivale opfert sich für ihn aus Liebe zu dessen Frau. Dickens hatte bei der Aufführung die Rolle des edelmütigen Helden Wardour, der auf der Bühne in den Armen der von Nelly gespielten unerreichbaren Geliebten stirbt. In diesem Selbstopfer verschmelzen Selbstmitleid und Selbsterhöhung zu einer melodramatischen Selbstidealisierung, wie sie danach in Dickens’ Werken mehrfach wiederkehrt.
Die erste Version des neuen Motivs findet sich bereits in der Geschichte
The Perils of Certain English Prisoners
(
Die Fährnisse einiger englischer Gefangener
), die Dickens zusammen mit Collins für die Weihnachtsnummer 1857 von
Household Words
schrieb. Darin erzählt Gill Davis, ein einfacher Seemann, die Geschichte der Selbstbefreiung einer Gruppe von Engländern, die auf einer Silberinsel von Piraten überfallen und in Geiselhaft genommen wurden. Davis, der am Gelingen der Flucht wesentlichen Anteil hat, liebt die für ihn unerreichbare Marion Maryon, die sich unter den Gefangenen befindet, und er
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