Charles Dickens
bleibt ein ergebener Gefolgsmann seines Kapitäns Carton, der Marion schließlich heiratet.
In einem Brief vom 7. Dezember 1857 an Mrs. Watson nimmt Dickens Bezug auf die Geschichte und schreibt:
Ich habe darin versucht den vornehmsten englischen Eigenschaften, wie sie sich in Indien gezeigt haben, ein Denkmal zu setzen, ohne dieSzene dorthin zu verlegen oder eine vulgäre Bezugnahme auf tatsächliche Ereignisse und Kalamitäten erkennen zu lassen. Ich glaube, dass es eine bemerkenswerte Produktion ist und einen großen Wirbel entfachen wird.
Gleich darauf lässt er in den Brief ein persönliches Bekenntnis einfließen:
[Der Abschluss der Geschichte] lässt mich zurück – so wie meine Kunst es immer tut – als die ruheloseste Kreatur auf Erden. Ich bin die moderne Verkörperung der alten Zauberer, die von ihren Vertrauten in Stücke gerissen werden. Ich kann Ruhe nicht ertragen und finde Befriedigung nur in der Erschöpfung. Wirklichkeit und Ideale vergleichen sich stets vor meinen Augen, und ich mag die Wirklichkeit nicht, außer wenn sie unerreichbar ist –
dann
mag ich sie mehr als alles. Ich wünschte, ich wäre in den Tagen von Ungeheuern geboren, als Schlösser von Drachen bewacht wurden. Ich wünschte, ein solches Ungeheuer mit sieben Köpfen (ohne eine Spur von Hirn darin) hätte eine Prinzessin, die ich anbete – Sie ahnen nicht, wie innig ich sie liebe! – in seine Burg auf dem Gipfel einer hohen Bergkette entführt und sie dort mit ihrem Haar festgebunden. Nichts würde mir jetzt mehr gefallen, als ihr mit dem Schwert in der Hand nachzuklettern und sie entweder zu gewinnen oder getötet zu werden. Hier haben Sie die Zustandsbeschreibung eines Geistes aus dem Jahr 1857.
Selten äußerte sich der zweite Frühling eines verliebten Mittvierzigers so direkt als Rückfall in pubertäre Gefühle wie hier. Das Motiv des Selbstopfers für eine unerreichbare Geliebte wird schon in Dickens’ nächstem Roman im Zentrum stehen. Da in seinem wirklichen Leben die Geliebte aber gar nicht unerreichbar war, sondern von ihm erobert wurde, wirkt das stellvertretende Selbstopfer seines Helden wie eine herbeifantasierte moralische Entlastung, so wie vorher die leidenden Kinder in seinen Werken den Eindruck weckten, als müsse er seine erfolgreiche Karriere mit der Erinnerung an das Leid seiner Kindheit vor sich selbst rechtfertigen. Schon in seinem nächsten Roman,
Eine Geschichte zweier Städte
, wird aus dem resignativen Verzicht des Gill Davisein tödliches Selbstopfer, wobei der Name Carton jetzt einem Helden gegeben ist, der sich der geliebten Frau nicht würdig glaubt und sich ihretwegen opfert, um ihren Ehemann zu retten.
Dickens’ Aktivitäten wurden von dieser Zeit an immer hektischer, als müsste er damit die eigenen Schuldgefühle unterdrücken. In der Heftigkeit seiner Reaktion verlor er oft jedes Augenmaß. So reagierte er auf den Sepoy-Aufstand in Indien, an dessen Niederschlagung sein Sohn Walter beteiligt war, mit hasserfüllten Kommentaren über die rebellierenden Eingeborenen. Zur anderen, altruistischen Seite schlug sein Pendel ebenso extrem aus, indem er vor vollen Häusern in Coventry, Edinburg und anderen Städten Wohltätigkeitslesungen hielt. Weihnachtsfestlichkeiten, wie sie bis dahin in seinem Hause üblich waren, scheint es in diesem Winter nicht gegeben zu haben. Ein Romanprojekt, das wie ein Anker auf sein ruhe loses Lebensschiff hätte wirken können, gab es ebenfalls noch nicht. So nahm er jede sich bietende Gelegenheit für öffentliche Auftritte wahr. Am 9. Februar 1858 hielt er eine Rede auf einem Benefizdinner für das
Hospital for Sick Children
und eine weitere am 15. April. Doch solche Wohltätigkeitsveranstaltungen waren zu selten, um ihn von den häuslichen Spannungen abzulenken. Deshalb entschloss er sich, nach Beratung mit Forster, seine publikumswirksamen Lesungen als Quelle für eigene Einnahmen zu nutzen und gab am 29. April die erste kommerzielle Lesung in London, der dort bis zum 22. Juli sechzehn weitere folgten.
Inzwischen hatte sich die häusliche Situation weiter zugespitzt. Über die Details dieser Entwicklung kursiert in der biographischen Literatur manches, was erst ein halbes Jahrhundert nach Dickens’ Tod von seiner Tochter Katey der Biographin Gladys Storey berichtet wurde. Das kann auf Grund von Gedächtnistrübungen falsch oder dem Wunsch entsprungen sein, das Bild des Vaters den Erwartungen eines modernen Publikums anzupassen. Jedenfalls wird
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