Charlies Planet
bißchen zurechtgeklopft, damit er einem Mann mit einem Gewehr ähnelte. Das Licht ist hier ein wenig mangelhaft, dennoch sehe und verstehe ich sie nun besser. Ich kann beinahe deinen Gesichtsausdruck erkennen – das heißt, an der Statue. Weil sie dich darstellt, natürlich … Nur, weißt du, da ist noch mehr. Du bist es, sicher, aber zugleich sieht sie aus wie alle die anderen Waldläufer, die jemals meinen Laden betreten haben. Begreifst du, was ich meine?«
Über seinem Becher schüttelte Cary den Kopf, als er ihren Blick auf sich ruhen fühlte.
»Für mich sieht sie nur aus wie ich«, gestand er.
»Du betrachtest sie nicht auf die richtige Weise«, sagte Mattie. »Ja, sie besitzt deine Figur, aber gleichzeitig ist da etwas anderes. Als stünde sie noch an ihrem alten Platz, halb im Erdboden – als ob man sie der Erde niemals entreißen könnte. Als schütze sie das Erdreich … Du siehst das nicht?«
Cary hob den Kopf und blinzelte die Statue aus verschleierten Augen an.
»Sieht aus wie ich«, sagte er einen Atemzug später, »als würde ich gerade erklären, daß mir dies oder jenes gehört.«
»Nein! Mehr als das.« Sie runzelte die Stirn. »Sie ist mehr als dein Abbild, verstehst du nicht …? Was sagt sie dir? Sprich aus, welchen Eindruck sie auf dich macht.«
Cary atmete tief ein und versuchte mühsam, seine Pupillen auf die Statue in dem verwaschenen Feuerschein zu richten.
»Nun ja, das bin ich – wie ich schon sagte«, antwortete er schließlich. »Das ist mein altes Gewehr – jenes, das ich damals im Schlamm verlor. Ich trage die dicke Lederkleidung, weil der Spätherbst schon angebrochen ist, und an meinen Stiefeln erkennst du gefrorene Morastklumpen. Die Pistole hängt griffbereit vorn. Allerdings trage ich keine Handschuhe. Deshalb sind meine Hände an die Jacke gepreßt, damit sie im Wind nicht allzu kalt und steif werden. Da ist das Messer in meinem Stiefelschaft, dort der Rucksack …«
Plötzlich brannte Hitze auf seinem rechten Bein und schreckte ihn aus dem Halbschlaf, in den die eigene Stimme ihn gelullt hatte. Der Becher war seiner Hand entfallen, Kaffee verbrühte das Bein. Seine Müdigkeit war so übermächtig, daß sich ringsum alles zu drehen schien. Undeutlich erfaßten seine Augen, nur wenige Zentimeter entfernt, Matties Gesicht. Sein Blick klärte sich wieder. Sie hielt den nun entleerten Becher und betupfte das Bein mit dem Zipfel eines Schlafsacks.
»Aber du siehst viel mehr in der Statue als ich …«
Ihre Augen glühten ihn seltsam an. Ihr Gesicht besaß einen fremdartigen Ausdruck.
»Nein, sprich jetzt nicht weiter. Hier ist dein Schlafsack. Hinein mit dir.«
Unbeholfen gehorchte er. Über ihm schwebte Matties Gesicht, umrahmt von ihrem dunklen Haar.
»Schlaf …«, flüsterte sie.
»Vielleicht …«, begann er. Und wußte auf einmal nicht mehr, was er hatte äußern wollen. Bevor er sich entsann, übermannte ihn der Schlaf.
Irgendwann in der Nacht wachte er auf, ohne sich dessen ganz bewußt zu werden. Er stützte sich auf den Ellbogen und überblickte das Lager.
Mattie hatte ihre Hängematte ausgespannt, war in den Schlafsack gekrochen und schlief. Das Feuer war bis auf einige kleine wabernde Flämmchen und Glutreste abgebrannt. Dahinter lag Charlie, den Kopf auf dem Boden, die Augen jedoch weit geöffnet. Sie widerspiegelten das Flackern der niedrigen Flammen und schienen deshalb hell zu leuchten. Neben dem Otter lag ein zerknautschter Schlafsack, als habe er ihn bedeckt, sei jedoch später beiseite geschoben worden. In der Nähe röhrte unermüdlich der Fluß, doch mittlerweile waren sie mit seinem Lärmen vertraut.
Cary schlüpfte aus dem Schlafsack und erhob sich lautlos. Charlie beobachtete ihn, als er neues Holz ins Feuer schob.
Die Flammen beleckten ihre Nahrung, und Cary richtete sich auf, um zu Matties Hängematte zu schlendern. Er betrachtete ihr Gesicht. Ihr Haar wies keine Spuren der Beeinträchtigung durch das unfreiwillige Bad mehr auf. Es war gebürstet und fiel in sanften Wellen nach hinten, ihr Gesicht war makellos. Auch die Fingerspitzen der Hand, die neben ihrer Wange aus dem Schlafsack lugte, waren sauber.
Cary wandte sich ab und hielt die eigene Hand in das Licht des Feuers, das wieder höher loderte. Seine Haut war dunkel von tief eingefressenem Dreck. Die Fingernägel gekrönt von schwarzen Halbmonden. Mit der Handfläche rieb er sein Kinn und spürte die stachligen Stoppeln eines sechs Tage alten Bartwuchses.
Charlies Augen
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