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Charlotte Und Die Geister Von Darkling

Charlotte Und Die Geister Von Darkling

Titel: Charlotte Und Die Geister Von Darkling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Boccacino
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auf den unberührten Wald hinter dem Haus. »Der Wald wurde zu einem Obstgarten, und da stand ein großes Haus. Mutter sagte, wir könnten jetzt nicht hineingehen. Wir müssen das in der Wirklichkeit tun, nicht im Traum. Und sie sagte, dass sie auf uns warten würde.«
    Die Detailliertheit seines Traumes war entnervend. Ich faltete meine Hände auf dem Pult und musterte den jungen Mann eingehend.
    »Warum würde sie das tun?«
    Er blickte in Gedanken versunken zu Boden. Der Blick seiner großen blauen Augen war auf nichts Bestimmtes gerichtet. Ohne aufzublicken sagte er: »Sie vermisst uns.«
    Diese drei Worte trieben mir fast die Tränen in die Augen. Die Jahre des Kummers über den Verlust meiner eigenen Mutter schnürten mir schier die Kehle zu und brannten in meinen Augen, wie man es spürt, wenn man weinen möchte.
    »Paul«, sagte ich mit bebender Stimme, »deine Mutter ist tot.«
    Er blickte schließlich auf. Ein wissender Ausdruck stand in seinem Gesicht, den ich nie an jemandem zu finden gedacht hätte, der erst dreizehn wurde. »Ich weiß. Aber hin und wieder, wenn wir im Dorf sind und ich den Rücken einer Dame mit langem schwarzen Haar sehe, hoffe ich immer, dass sie es ist und dass alles, woran ich mich erinnere, falsch ist. Dass sie noch lebt. Dass alles nur ein Missverständnis war.«
    Das war fast dasselbe wie das, was mir sein Vater in jener ersten Nacht im Musikzimmer erzählt hatte. Wir blickten einander stumm an, bis James es müde wurde, nicht der Mittelpunkt zu sein, und sagte:
    »Können wir gehen?«
    »Essen gibt es erst in zwanzig Minuten«, erinnerte ich ihn.
    »Nicht zum Essen. In den Wald.« Er deutete auf die Karte, die sein Bruder gezeichnet hatte.
    »Weshalb denn?«
    Der Junge zuckte die Schultern. Sein älterer Bruder meinte: »Sind nicht manche Träume wahr?«
    Ich wollte, dass die Buben den Gedanken erleichternd fanden, dass ihre Träume nicht wirklich waren. Aber ich hatte nicht erwartet, dass sie den Gedanken, dass sie es sein könnten, so viel tröstlicher finden würden. Wenn ich sie in den Wald mitnahm, würden sie dort nichts finden und gezwungen sein, den Tod ihrer Mutter zu akzeptieren. Wenn ich es nicht tat, würden sie sich wahrscheinlich bei irgendeiner Gelegenheit mit der Karte davonschleichen, und dass die Jungs unbeaufsichtigt in die Wildnis rannten, war das Letzte, was ich wollte. Es gab nur deneinen Weg: Ich selbst führte sie in den Wald, konfrontierte sie mit der Realität des Todes und kümmerte mich um die Konsequenzen, wenn es so weit war.
    »Ich schätze, wir könnten heute Nachmittag draußen essen. Ein Picknick würde Spaß machen.« Bei der Erwähnung von Essen umklammerte James wieder seinen Bauch und gab sich größte Mühe, mitleiderregend auszusehen. Paul blickte stirnrunzelnd auf seine selbst gezeichnete Karte, sagte aber nichts.
    »Würde das euch beiden Spaß machen?« Der ältere Junge faltete die Karte sorgfältig und steckte sie in seine Tasche. »Ja, danke.« Er lächelte bedächtig. Mir begann aufzufallen, dass er undurchschaubar sein konnte, wenn er es wollte. Das war eine unnatürliche Fähigkeit für jemanden seines Alters, und ich nahm mir vor, ihn eingehender zu beobachten.
    »Können wir jetzt gehen?«, quengelte James. Er nahm mich an der Hand, bevor ich etwas sagen konnte, und führte mich in den Salon hinunter, wo ich sie zu warten bat, während ich unser Picknick mit Mrs. Mulbus aushandelte. Glücklicherweise war Jenny im Dorf, um etwas zu besorgen, deshalb entfiel das übliche Streiten und Schreien, das bei jedem Besuch in der Küche zu hören war. Stattdessen sang mir Mrs. Mulbus ein Klagelied über die Säumigkeit und Faulheit des Küchenmädchens vor. Da ich ihr voller Mitgefühl zuhörte, füllte sie mir gern einen Korb mit belegten Schnittchen, Scheiben von gebratenem Hühnchen, Brot, Käse, Pastete und Obst für unseren Nachmittagsausflug. Sie brachte mir sogar eine feste Decke dafür.
    Ich holte die Buben. Wir verließen das Haus durch den Hinterausgang und fanden einen geeigneten Grasflecken am Rand des Waldes, auf den noch die Sonne schien. Trotz des bevorstehenden Winters war es ungewöhnlich warm. Ich breitete die Picknickdecke aus und packte den Korb aus. Während wir unsere Mägen füllten, maßen die Äste die Länge unserer Mahlzeitwie eine Sonnenuhr. Als wir fertig waren, sank ich zurück in das hohe Gras und lächelte der Sonne zu. Die Kinder tanzten um mich herum wie Riesen zwischen den verblühten Blumen, glücklich

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