Charlotte Und Die Geister Von Darkling
habe jetzt eine neue Aufgabe für euch.«
James gähnte erneut.
»Aber es ist fast Zeit fürs Mittagessen!« Er umklammerte seinen Bauch, als würde er in der nächsten halben Stunde verhungern. Ich ignorierte es.
»Ihr sollt jetzt eure Träume darstellen, entweder in Bild oder in Schrift.«
Beide griffen nach den Buntstiften auf dem Tisch und ignorierten die Möglichkeit sich in einem Text auszudrücken, obgleich diese Weise mein bevorzugtes Medium war. Ich runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Schließlich hatte ihre verstorbene Mutter die meisten Gemälde geschaffen, die die Wände Evertons zierten.
Paul begann sofort wild zu kritzeln. Er hielt alle paar Minuten inne, um aus dem Fenster zu blicken, und fuhr fort, ein detailliertes Bild der Umgebung von Everton aus der Vogelperspektive zu zeichnen. James tat sich schwerer, sich für ein Motiv zu entscheiden. Er hatte jede Nacht viele Träume, und daraus den aufregendsten und wildesten auszuwählen und zu illustrieren, war keine leichte Aufgabe. Schließlich entschied er sich für das, was er am besten kannte, und begann den ungeschlachten schwarzen Körper der Spinnenkönigin zu zeichnen. Als sie fertig waren, führte ich sie zurück zu ihren Tischen und bat sie, ihre Arbeiten vorzustellen und ihre Entstehung zu erklären.
James, der immer der Erste sein wollte, und eine Ablehnung mit einem heftigen Wutanfall zu begleiten pflegte, hatte erkannt, dass er bei mir mit dieser Taktik auf Granit biss. Trotz einer manchmal durchaus imposanten Darbietung mit beträchtlichemKörpereinsatz, wobei er Stühle schleuderte, Tische umwarf und Vasen zerschmetterte, während ich begeistert Beifall klatschte, als hätte ich Eintritt für seine Vorstellung bezahlt, ließ er sich schließlich dazu herbei, sich mit seinem Bruder abzuwechseln.
Doch diesmal war er ohnehin an der Reihe, als Erster sein Werk zu präsentieren. Er stand auf und trat nach vorn neben mein Pult.
»Ich habe die Spinnenkönigin gezeichnet.« Das Blatt zeigte den schwarzen Fleck eines Körpers mit acht dünnen Extremitäten, doch das Gesicht des Wesens war ganz das einer Frau mit silbernem Haar und jungen hübschen Zügen. »Sie wohnt in einer Höhle unter meinem Bett und frisst die Kobolde, wenn sie versuchen, mir den Atem zu stehlen. Manchmal gehe ich zu ihr zum Tee, und manchmal sind wir Freunde, aber oft schickt sie auch ihre Kinder hinter mir her, weil ich was von ihren Schätzen gestohlen habe.« Er hielt inne und drückte wieder seinen Bauch, um auf seinen sehr hungrigen Zustand aufmerksam zu machen, aber ich ließ ihn nicht an seinen Platz zurückkehren.
»Aber warum stiehlst du denn von der Spinnenkönigin? Sie tut dir schließlich einen Gefallen, indem sie die Kobolde verschlingt.«
James sah mich an, als würde ich es nie kapieren.
»Um Mutters Seele vom Koboldkönig zurückzukaufen.«
Einen Moment lang wusste ich nicht, was ich darauf erwidern sollte. Was gäbe es darauf zu sagen? Es war ein so schöner, trauriger Gedanke, aber ich fing mich rasch.
»Warum glaubst du, dass er die Seele deiner Mutter hat? Sie ist doch im Himmel.«
Der Junge dachte darüber nach und zuckte die Schultern. »Weiß nicht. Es war ja nur ein Traum.« Ich bedeutete ihm, dass er zu seinem Platz zurückkehren könne.
Paul stand auf und nahm den Platz vor der Tafel ein. Er hieltseine Darstellung von Everton hoch, die nun fast einer Schatzkarte glich.
»Letzte Nacht träumte ich, dass ich zu Mutters Haus ging.«
Ich holte tief Luft und verkrampfte meine Finger ineinander. Es verlief gar nicht wie erwartet. Aber was hatte ich denn erwartet? Die Buben hatten ihre Mutter verloren. Natürlich träumten sie von ihr. Ich wusste , dass sie von ihr träumten. Ich hatte meine Mutter vor fast zehn Jahren verloren, und ich träumte immer noch von ihr. Es hat nie wirklich aufgehört. Wir drei würden wahrscheinlich unser Leben lang Opfer unseres Kummers sein und den Alptraum unseres Verlustes nie wirklich überwinden. Aber wenn das stimmte, dann waren wir auch miteinander verbunden in unseren Träumen, in denen wir nach neuen Erinnerungen an unsere verlorenen Mütter suchten. Kinder brauchen ihre Eltern, in welcher Form sie auch zur Verfügung stehen, und ich schauderte einen Moment, als ich an einen meiner Träume vor ein paar Nächten zurückdachte.
Kinder brauchen ihre Mütter.
Paul fuhr fort, sein Bild zu erklären.
»Sie holte mich in der Nacht und führte mich durch einen Wald.« Er deutete dabei in seiner Zeichnung
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