Charlotte
es schien, aufrichtig. Sie hatte fröhliche blaue Augen und blondes Haar, das ihr lockig um das regelmäßige Gesicht fiel. Ein nettes, achtzehnjähriges junges Mädchen. Sie wäre gern Ärztin geworden. Sie machte ganz und gar nicht den Eindruck, als würde sie sich eiskalt und berechnend auf das Erbe ihres ermordeten Vaters stürzen, noch bevor er auf dem Friedhof lag.
Eine alte Dame schob ihren Einkaufswagen von der Kasse weg, und ich trat in die Schleuse. »Hallo«, sagte ich. »Charlotte? Mein Name ist Max Winter. Vielleicht überfalle ich dich ein bisschen, aber ich würde mich gerne einen Moment mit dir unterhalten, wenn es geht.«
»Ja?«, sagte sie und zog die Augenbrauen hoch. »Worum geht es denn?«
Mit dem Erbe anzufangen würde sie abschrecken. Ihr Vater war wahrscheinlich gar nicht ihr Vater. Manchmal fiel einem einfach kein Gesprächsthema ein, das nicht automatisch ablehnende Reaktionen hervorrufen würde. Ein Mann blieb mit seinem Wagen stehen und stellte mehrere Päckchen Kaffee, Weinflaschen und Limonade auf Charlottes Band.
»Es geht um deinen Vater«, sagte ich schließlich.
Charlotte warf einen Blick auf die wachsende Ansammlung von Lebensmitteln. »Vielleicht sollten Sie sich lieber mit Leonoor unterhalten, Leonoor Brasma.«
»Von ihr komme ich gerade.«
Die Artikel häuften sich und Charlotte hielt automatisch das Band an. »In einer Viertelstunde bin ich hier fertig«, sagte sie.
»Dann warte ich draußen auf dich. Sollen wir hier nebenan eine Tasse Kaffee trinken?«
Sie nickte und lächelte unsicher.
Es war Viertel vor eins. Ich verließ das Geschäft und überquerte die Seitenstraße in Richtung meines Autos, das ich neben einem flachen Gebäude abgestellt hatte, in dem sich das Fremdenverkehrsamt und ein Café befanden. Ich legte mein Notizbuch auf das Lenkrad, behielt den Eingang des Supermarktes und die Uhr im Auge und machte ein paar Aufzeichnungen zu dem Gespräch mit Leonoor Brasma.
Fest stand bisher nur eines: Hennie van Loon und Leonoor Brasma hatten mir zwei völlig entgegengesetzte Geschichten erzählt. Leonoors Behauptung, Runing habe sein Verhältnis mit Elisabeth auch nach ihrer Kündigung fortgesetzt, schien die Geburtsurkunde schwarz auf weiß zu bezeugen. Mir fielen tausend Gründe ein, warum Runing van Loon das Verhältnis und erst recht die Geburt eines außerehelichen Kindes verschwiegen haben könnte. Am logischsten schien es, dass er dem menschlichen Impuls gefolgt war, Streit innerhalb der Familie zu vermeiden, vor allem wenn er nie die Absicht gehabt hatte, sich von Heleen scheiden zu lassen.
Ich legte mein Notizbuch ins Handschuhfach und stieg rasch aus dem Auto, als ich Charlotte aus dem Geschäft kommen sah. Ich winkte ihr zu und sie überquerte rasch die Seitenstraße. Sie hatte ihren blauen Verkäuferinnenkittel ausgezogen und sah in ihrer Jeans, dem beigefarbenen Pulli und der karierten Jacke mit Cordkragen aus wie ein ganz normales Mädchen.
»Mein Name ist Max Winter«, sagte ich noch einmal.
Sie erwiderte meinen Händedruck. »Charlotte Bonnette.« Mit der anderen Hand zupfte sie nervös am Riemen ihrer grünen Umhängetasche. Sie sah aus, als lägen ihr Fragen auf der Zunge und als wüsste sie nicht, welche sie zuerst stellen sollte. Sie hatte eine zarte, helle Haut und von nahem betrachtet auffallend schöne Augen, die neugierig und ein wenig argwöhnisch dreinblickten. »Haben Sie meinen Vater gekannt?«, fragte sie schließlich.
»Nein.«
»Oh. Ich dachte … «
»Ich muss nur einige Unklarheiten im Zusammenhang mit Otto Runings Erbe ausräumen«, sagte ich so freundlich wie möglich. »Möchtest du etwas zu Mittag essen oder isst du zu Hause?«
Ich deutete mit einem Kopfnicken auf die Korbmöbel auf der Terrasse vor dem Kaffee. Auf einer Schultafel wurde in runden Lettern ein Menü mit Wiener Schnitzel für achtzehn Euro empfohlen. Die Terrasse war voll besetzt mit Touristen und Büroangestellten, weshalb ich mit ihr hineinging und wir uns in eine ruhige Ecke am Seitenfenster setzten. Da sie, wie sie sagte, Schnitzel nicht mochte, bestellten wir Café und belegte Brötchen.
»In wessen Auftrag sollen Sie diese Unklarheiten ausräumen?«, fragte sie, nachdem der Kaffee serviert worden war.
»Für die Witwe.«
»Sind Sie Rechtsanwalt?«
»Nein, ich arbeite für ein Detektivbüro.«
Sie erschrak ein wenig. »Vielleicht sollten Sie sich lieber mit Meneer van Zon unterhalten.«
»Das werde ich auch noch«, sagte ich.
»Aber was soll
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