Charmant und unwiderstehlich
irgendwo in deiner Nähe bleiben. Du sollst mich jederzeit erreichen können. Im Grunde will ich auch gar nicht fort. Du brauchst jemanden, der sich um dich kümmert. Nur für den Fall, dass du Hilfe benötigst. Ich halte das für meine Pflicht dir und Gary gegenüber. Andererseits will ich dir auch nicht ständig mit meiner Pflichterfüllung auf die Pelle rücken.“ Brad hielt den Atem an und flehte lautlos, dass sie ihm gestattete, ihr zu helfen.
In ihrer Nähe zu bleiben. Am liebsten hätte er sie ganz offen darum gebeten, aber er wollte keinerlei Druck auf sie ausüben. Er wusste genau, dass es ihr wichtig war, sich frei entscheiden zu können. Schließlich schüttelte sie den Kopf.
Seufzend ließ er die Luft aus den Lungen fahren.
„Ich war tatsächlich schockiert, als ich dich auf meiner Veranda entdeckt habe.
Und deine Drohung hat mich sehr aufgeregt. Ich vertraue dir immer noch nicht ganz. Aber in den letzten Tagen hast du dir sehr viel Mühe gegeben. Außerdem bist du der Onkel von Annalise.“
„Annalise?“
„Das ist der Name, den die beiden für ihre Tochter ausgesucht haben. Unsere Mutter hieß Lise. Und irgendjemand namens Annie muss Gary sehr viel bedeutet haben“, erklärte sie.
Er lächelte wissend. „Das war der Name unseres letzten Kindermädchens.“ Auch für ihn war Annie sehr wichtig gewesen. Sie war die einzige Person, auf die die beiden Brüder sich felsenfest hatten verlassen können. Eine freundliche junge Frau mit braunem Haar, die immer nach frischen Blumen roch. Sein Lächeln verschwand, als sich ein anderes Bild in seine Erinnerung drängte.
„Meine Mutter hat Annie entlassen, als sie merkte, dass mein Vater sein unersättliches Auge auf sie geworfen hatte. Sie meinte, es wäre zum Besten von Annie.“
Brad legte keinen Wert auf Melissas Mitleid. Deshalb verschwieg er Melissa, dass man ihn und Gary förmlich aus Annies Armen gerissen und nach Aldon geschickt hatte, in ein exklusives Jungeninternat in der Nähe von New York. Seine Mutter wollte es nie wieder erleben, dass ihr Mann sich mit dem Kindermädchen vergnügte. Deshalb hatten ihre Söhne den Rest ihrer Kindheit im Internat verbringen müssen. Den Sommer über wurden sie in Ferienlagern und bei Verwandten untergebracht.
„Das ist nicht fair“, meinte Melissa traurig.
„Was ist schon fair“, erwiderte Brad schulterzuckend. „Hab bloß kein Mitleid mit dem armen, reichen Jungen. Dein Leben war auch nicht gerade ein Zuckerschlecken.“
„Aber meine Eltern haben uns nicht beiseite gestoßen wie deine. So jedenfalls hat Gary die Geschichte erzählt. Mom und Dad sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Und wir sind von Verwandten aufgenommen worden, die uns geliebt haben. Natürlich haben wir alle unsere Blessuren davongetragen, bis wir endlich erwachsen waren, aber der Schmerz ist größer, wenn man weiß, dass er vermeidbar gewesen wäre. Und nicht absichtlich von den Eltern zugefügt worden ist.“
Sie hatte Recht. „Als ich klein war, hat Gary mir immer erzählt, wie unser Leben wohl aussehen würde, wenn wir erwachsen sind. Er hat sich ein schönes, glückliches Leben erträumt. Wie oft bin ich eingeschlafen, wenn ich nachts im Bett lag und seinen Erzählungen gelauscht habe. Und jetzt bin ich zu dir gekommen, damit Annalise sich niemals unglücklich fühlt. Ich weiß, dass das unmöglich ist. Aber ich möchte unbedingt, dass Garys Träume sich im Leben seines Kindes erfüllen. Ich möchte einfach nur helfen.“
„Dann hilf mir“, nickte sie und grinste ihn an. „Um die Wahrheit zu sagen, die Schwangerschaft überfordert mich, je mehr ich damit zu tun habe. Von dem Gedanken an die Geburt ganz zu schweigen. Aber ich will nicht, dass du mich fütterst, bis ich total fett bin.“
Melissa verschwand bald nach dem Abendessen. Brad setzte sich mit seinem Buch ins Wohnzimmer und überlegte, wie er es anstellen sollte, jeden Tag Kontakt zu ihr zu haben, ohne ihr zu sehr auf die Nerven zu gehen. Er wollte ihr all die Dinge abnehmen, die ihr Leben beschwerlicher machten, ohne in ihre Privatsphäre einzudringen. Und er würde peinlich genau darauf achten, dass er sich innerlich nicht zu sehr auf sie fixierte. Spätestens an Thanksgiving wollte er wieder verschwunden sein.
Er lag auf dem Sofa und machte in Gedanken eine Liste mit den Reparaturen, die an ihrem Haus dringend erledigt werden mussten. Und er gab sich alle Mühe, seine Gedanken nicht in verbotene Gefilde abschweifen zu lassen. Es war umsonst.
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