Chasm City
wusste ja, dass ich ohne sie rasch in der Anonymität des Mulch versinken würde. Wenn ich sie verlor, konnte ich mich auch gleich erschießen lassen.
Die Schüsse folgten mir.
Jeder Schuss landete etwa einen Meter hinter meinen Fersen. Der Schütze verstand sein Handwerk. Er hätte mich ohne größeren Aufwand töten können – er brauchte sein Ziel nur um eine Winzigkeit nach vorne zu verlegen, und dazu wäre er durchaus imstande gewesen. Stattdessen spielte er Katz und Maus mit mir. Er konnte mich jederzeit mit einem Schuss in den Rücken erledigen, aber dafür nahm er sich alle Zeit der Welt.
Mit nassen Füßen erreichte ich das Gebäude. Die Wände waren völlig glatt; keine Nische, kein Eingang, wo ich mich verstecken konnte. Das Gewehr verstummte, aber die Ellipse des Scheinwerfers blieb, wo sie war. Das grellblaue Licht beschien den Regen zwischen mir und der Gondel wie einen dichten Vorhang.
Eine Gestalt in einem dicken Mantel trat aus der Dunkelheit. Zuerst dachte ich, es handle sich um den Mann oder die Frau, mit denen ich zuvor gesprochen hatte, doch den Mann, der nun ins Scheinwerferlicht trat, hatte ich noch nie gesehen. Sein Kopf war kahl, sein Kinn von fast schon karikaturistischer Eckigkeit, und vor einem Auge hatte er ein blinkendes Monokel.
»Keine Bewegung«, sagte er, »dann geschieht Ihnen nichts.« Sein Mantel öffnete sich, und ich sah eine Waffe, die massiver war als die Spielzeugpistole der Baldachin-Frau, eine Waffe, die man ernst nehmen musste. Sie bestand aus einem schwarzen Rechteck mit einem Griff an einem und vier schwarzen Mündungen am anderen Ende. Der Mann umfasste den Griff so fest, dass die Knöchel seiner Hand weiß hervortraten, und streichelte mit dem Finger den Abzug.
Er feuerte aus der Hüfte; eine Art Laserstrahl löste sich aus der Mündung, kam surrend auf mich zu und schlug neben mir in die Wand des Gebäudes ein, dass die Funken sprühten. Ich rannte los, aber beim zweiten Mal hatte mein Gegner besser gezielt. Ein stechender Schmerz durchzuckte meinen Oberschenkel, und plötzlich rannte ich nicht mehr. Plötzlich konnte ich nur noch schreien. Und dann war ich selbst dazu nicht mehr fähig.
Die Sanitäter hatten gute Arbeit geleistet, aber man durfte keine Wunder erwarten. Das bezeugten die Überwachungsgeräte, die am Bett seines Vaters langsam und feierlich die Liturgie seines biologischen Verfalls zelebrierten.
Sechs Monate war es her, seit der Schläfer erwacht war und Skys Vater verletzt hatte, und es war schon eine beachtliche Leistung, dass man es geschafft hatte, Titus Hausmann und seinen Angreifer so lange am Leben erhalten. Bei dem herrschenden Mangel an Medikamenten wie an guten medizinischen Fachkräften hatte jedoch nie eine realistische Aussicht bestanden, die beiden wieder gesund zu pflegen.
Die jüngste Serie von Streitigkeiten zwischen den Schiffen hatte die Situation auch nicht gerade verbessert. Die Spannungen hatten sich verschärft, als man wenige Wochen, nachdem der Schläfer erwacht war, auf der Brasilia einen Spion entdeckte. Die Sicherheitswache hatte den Agenten zur Bagdad zurück verfolgt, aber die Führung der Bagdad hatte erklärt, der Mann sei nicht auf ihrem Schiff geboren, sondern vermutlich von der Santiago oder der Palästina eingeschleust worden. Als weitere Personen als Agenten verdächtigt wurden, wurden Stimmen laut, die deren Verhaftung als Freiheitsberaubung und als Verstoß gegen die Flottillen-Gesetze bezeichneten. Die Beziehungen vereisten, alle Kontakte zwischen den Schiffen wurden auf ein Minimum reduziert; gegenseitige Besuche beschränkten sich von nun an auf diplomatische Missionen, die nur widerwillig durchgeführt wurden, stets scheiterten und unweigerlich in Vorwürfen endeten.
Vor diesem Hintergrund waren alle Bitten um medizinisches Gerät und medizinische Fachkräfte zur Pflege von Skys Vater auf taube Ohren gestoßen. Es sei ja nicht so, als hätten die anderen Schiffe keine Krisen. Und Titus sei als Leiter der Sicherheitswache schließlich nicht über den Verdacht erhaben, den Spionagevorfall überhaupt erst inszeniert zu haben.
Bedauere, hatte es geheißen. Wir würden wirklich gerne helfen, aber…
Jetzt fing sein Vater mühsam zu sprechen an.
»Schuyler…«, sagte er. Sein Mund klaffte wie ein Riss in der pergamenttrockenen Haut. »Schuyler… bist du das?«
»Ich bin hier, Dad. Ich bin nie weggegangen.« Sky setzte sich auf den Hocker neben dem Bett und betrachtete die graue Gestalt mit dem
Weitere Kostenlose Bücher