Chasm City
sagte: »Ich möchte mir noch ein wenig die Aussicht ansehen. In einer Viertelstunde komme ich hinunter.«
»Wie Sie wünschen. Ich werde ein Gedeck für Sie auflegen.«
Der Roboter drehte sich um und glitt lautlos davon.
Ich sah wieder aus dem Fenster.
Ich weiß nicht genau, was ich in diesem Moment erwartet hatte, auf den Anblick, der sich mir bot, war ich jedenfalls nicht gefasst. Wir hatten den Einstiegsbereich verlassen, aber das Terminal war sehr viel höher, sodass wir jetzt durch die oberen Etagen fuhren. Und hier hatten die Haussmann-Kultisten ihren religiösen Wahn endgültig auf die Spitze getrieben. Sie hatten Sky Haussmanns Leichnam nach der Kreuzigung einbalsamiert und mit einer graugrün schillernden, bleiartigen Konservierungsschicht überzogen, um ihn dann wie die Galionsfigur eines riesigen Segelschiffes an einen mächtigen, nach oben gewölbten Schiffsschnabel zu hängen, der so weit aus einer der Innenwände ragte, dass er fast das Kabel berührte.
Haussmann war mit nacktem Oberkörper und ausgebreiteten Armen an einer kreuzförmigen Metallspiere befestigt. Die Beine waren zusammengebunden, aber durch das rechte Handgelenk (nicht die Handfläche, in diesem Punkt arbeitete das Stigmatisierungs-Virus nicht wahrheitsgetreu) hatte man einen Nagel geschlagen und durch den oberen Teil des abgetrennten linken Arms ein sehr viel dickeres Metallstück gerammt. Der Überzug ließ diese Details gnädigerweise ebenso verschwimmen wie den Ausdruck dumpfer Qual in Haussmanns Gesicht. Die Züge waren also kaum zu erkennen, aber die Stellung des Halses schrie den Schmerz förmlich hinaus, und der Unterkiefer war so verkrampft wie bei einem Todeskandidaten auf dem elektrischen Stuhl. Ein tödlicher Stromschlag wäre barmherziger gewesen, dachte ich, welche Verbrechen der Mann auch begangen haben mochte.
Aber das wäre zu einfach gewesen. Man wollte schließlich nicht nur einen Menschen hinrichten, der schreckliche Dinge getan hatte, man wollte zugleich einen Menschen verherrlichen, dem man eine ganze Welt verdankte. Mit der Kreuzigung konnte man Verehrung und Hass mit gleicher Eindringlichkeit zum Ausdruck bringen.
Seither hatte sich nichts verändert.
Die Gondel glitt in wenigen Metern Entfernung an Sky vorbei. Ich zuckte zurück, wollte den Schmerzensmann so schnell wie möglich hinter mir lassen. Der riesige Raum schien das Echo seiner Qualen für alle Zeit zu konservieren.
Meine Handfläche begann zu jucken. Ich rieb sie am Geländer und schloss die Augen, bis wir das Terminal verlassen hatten und ringsum nur noch tiefe Dunkelheit herrschte.
»Noch etwas Wein, Mr. Mirabel?«, fragte die fuchsgesichtige Frau des Aristokraten, die mir gegenüber saß.
»Danke, nein«, sagte ich und tupfte mir vornehm den Mund mit der Serviette ab. »Wenn Sie erlauben, möchte ich mich jetzt entschuldigen. Ich würde mir gern die Aussicht ansehen.«
»Wie schade«, sagte die Frau enttäuscht und schmollte ein wenig.
»Wirklich«, sagte ihr Mann. »Ihre Geschichten werden uns fehlen, Tanner.«
Ich lächelte. Eigentlich hatte ich nicht viel mehr getan, als eine Stunde lang unermüdlich grinsend steife Konversation zu machen. Hin und wieder hatte ich das Tischgespräch mit einer Anekdote gewürzt, aber nur dann, wenn wieder einmal alles peinlich berührt schwieg, weil einer der anderen Gäste eine Bemerkung gemacht hatte, die nach den ständig wechselnden Regeln der gehobenen Etikette als anstößig aufgefasst werden konnte. Nachdem ich mehrfach Streitigkeiten zwischen den Nord- und Südparteien unter den Anwesenden hatte schlichten müssen, war ich schließlich wie von selbst zum Sprecher der ganzen Tischgesellschaft aufgerückt. Ganz überzeugend war meine falsche Identität allerdings wohl nicht gewesen, denn selbst die Vertreter des Nordens spürten, dass ich mich nicht immer automatisch auf die Seite der Südländer schlug.
Aber das spielte kaum eine Rolle. Die Frau am Fahrkartenschalter hatte mir den Aristokraten abgenommen und mir deshalb mehr verraten, als sie es sonst vielleicht getan hätte. Es war mir auch gelungen, unter den anwesenden Aristokraten nicht aufzufallen – aber nun konnte ich die Rolle früher oder später wieder ablegen. Ich war schließlich kein gesuchter Verbrecher – nur ein Mann mit zweifelhafter Vergangenheit und zwielichtigen Verbindungen. Es war auch kein Fehler gewesen, mich als Tanner Mirabel vorzustellen – das war viel weniger gefährlich, als wenn ich versucht hätte, mir
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