Chasm City
einen adeligen Stammbaum aus den Fingern zu saugen. Es war zum Glück ein ganz neutraler Name, der weder allzu aristokratisch noch irgendwie anrüchig klang. Anders als meine Tischgenossen konnte ich nicht mit Vorfahren aufwarten, die mit der Flottille gekommen waren, der Name Mirabel war sehr wahrscheinlich erst fünfzig Jahre später erstmals auf Sky’s Edge aufgetaucht. Für aristokratische Begriffe spielte ich den ungehobelten Parvenü – aber niemand wäre so taktlos gewesen, mich das merken zu lassen. Alle anderen waren langlebig, sie konnten ihre Abstammung nicht nur bis zur Flottille zurückverfolgen, ihre Namen hatten sogar im Schiffsmanifest gestanden, und seither hatte es nur eine bis zwei Generationen gegeben. Da war es nur natürlich, wenn sie auch mir verbesserte Gene und Zugriff auf die erforderliche therapeutische Technik unterstellten.
Die Mirabels waren wahrscheinlich erst einige Zeit nach der Flottille auf Sky’s Edge eingetroffen, dennoch hatten sie keine Zelllinien mit eingebauter Langlebigkeit mitgebracht. Die erste Generation mochte sich eines außergewöhnlich langen Lebens erfreut haben, aber sie hatte diese Eigenschaft nicht an ihre Nachkommen weitergegeben.
Und ich hatte auch nicht das Geld, sie mir ›von der Stange‹ zu kaufen. Cahuella hatte mich anständig bezahlt, aber nicht so gut, dass ich es mir hätte leisten können, mich von den Ultras hemmungslos ausnehmen zu lassen. Es kam auch kaum darauf an. Nur jeder zwanzigste Planetenbewohner hatte eine entsprechende Therapie hinter sich. Der Rest versank im Krieg oder fristete in den Nischen, die vom Krieg verschont wurden, sein Dasein. Es ging nicht in erster Linie darum, das nächste Jahrhundert zu überleben, sondern den nächsten Monat.
Daher war es mir mehr als unangenehm, als sich das Gespräch dem Thema Langlebigkeitsbehandlungen zuwandte. So lange es ging, lehnte ich mich zurück und ließ die Worte an mir vorbei rauschen, doch bei jeder auftauchenden Meinungsverschiedenheit wurde ich in die Rolle des Schiedsrichters gedrängt. »Tanner wird das wissen«, hieß es dann unweigerlich, und alles wartete auf eine definitive Stellungnahme zu der Frage, über die man sich gerade nicht einigen konnte.
»Das ist nicht so einfach«, versuchte ich mich mehr als einmal aus der Affäre zu ziehen.
Oder: »Natürlich geht es hier um eine grundlegendere Problematik.«
Oder: »Ich kann das Thema aus ethischen Gründen leider nicht weiter vertiefen – ich stehe unter Schweigepflicht. Sie haben dafür doch sicher Verständnis?«
So ging das eine volle Stunde lang. Dann wollte ich nur noch eine Weile allein sein.
Ich stand auf, entschuldigte mich und stieg die Wendeltreppe zum Aussichtsdeck hinauf, das über den Kabinen und dem Speisesaal lag. Ich freute mich darauf, das Aristokratenkostüm ablegen zu können und verspürte zum ersten Mal seit Stunden eine gewisse Befriedigung über meine Leistung. Ich hatte alles unter Kontrolle. Oben angekommen, bestellte ich mir beim Etagen-Servomaten einen Guindado. Der Drink benebelte mir in durchaus angenehmer Weise den sonst so klaren Verstand, ich hatte ja genügend Zeit, um wieder nüchtern zu werden: mindestens sieben Stunden Fahrt lagen vor mir, bis ich als Killer gefordert war.
Wir fuhren jetzt schneller. Gleich nach Verlassen des Terminals hatte die Gondel auf fünfhundert Stundenkilometer beschleunigt. Selbst in diesem Tempo hätten wir vierzig Stunden gebraucht, um die vielen tausend Kilometer zur Orbitalstation zurückzulegen. Doch sobald der Fahrstuhl – irgendwann im Lauf des ersten Gangs – aus der Atmosphäre auftauchte, hatte er seine Geschwindigkeit noch einmal vervierfacht.
Ich hatte das Aussichtsdeck für mich allein.
Sobald die anderen Passagiere mit dem Essen fertig sein würden, würden sie sich auf die fünf Räume über dem Speisesaal verteilen. Eine Gondel fasste bequem fünfzig Personen, ohne dass man sich beengt fühlte, doch heute waren wir nur zu siebt. Die Gesamtfahrzeit betrug zehn Stunden. Die Umlaufzeit der Station um Sky’s Edge war auf die Rotationsgeschwindigkeit des Planeten abgestimmt, sodass sie immer auf der Höhe von Nueva Valparaiso genau über dem Äquator stand. Ich wusste, dass es auf der Erde Weltraumbrücken gab, die bis in sechsunddreißigtausend Kilometer Höhe reichten – aber Sky’s Edge rotierte etwas schneller und hatte eine etwas geringere Schwerkraft, deshalb lag der Synchronorbit hier sechzehntausend Kilometer tiefer.
Das Kabel war
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