Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chasm City

Chasm City

Titel: Chasm City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
Vom Netzwerk:
allerdings immer noch zwanzigtausend Kilometer lang – und das hieß, dass der oberste Kilometer durch das Gewicht der neunzehntausend Kilometer darunter einem ungeheuren Zug ausgesetzt war. Das Kabel war innen hohl, die Wände ein Gitter aus piezo-elektrisch verstärktem Hyperdiamant, aber so viel ich gehört hatte, wog es dennoch fast zwanzig Millionen Tonnen. Ich wurde den Gedanken nicht los, dass ich dem Kabel mit jedem Schritt durch das Aussichtsdeck eine wenn auch noch so geringe zusätzliche Belastung zumutete. Während ich an meinem Guindado nippte, überlegte ich, wie hoch die eingebauten Toleranzen sein mochten, wie dicht die Erbauer wohl an die Grenzen der Reißfestigkeit gegangen waren. Doch dann meldete sich die Stimme der Vernunft und erinnerte mich daran, dass das Kabel nur einen winzigen Bruchteil der Last beförderte, für die es ausgelegt war, und ich schlenderte wieder mit mehr Selbstvertrauen an den Fenstern entlang.
    Ob Reivich sich jetzt wohl auch in aller Ruhe einen Drink gönnte?
    An sich wäre die Aussicht spektakulär gewesen, doch selbst da, wo es noch nicht Nacht war, lag die Halbinsel unter dicken Regenwolken verborgen. Seit die Welt auf ihrer Bahn dem ›Schwan‹ so nahe war, kam die Monsunzeit alle hundert Tage, dauerte aber dafür in den kurzen Jahren höchstens zehn bis fünfzehn Tage. Der Himmel über dem stark gekrümmten Horizont durchlief alle Blautöne bis hin zu einem dunklen Marineblau. Ich konnte jetzt die Sterne funkeln sehen. Genau über mir hing die Orbitalstation wie ein einzelner Fixstern am oberen Ende des Kabels. Noch war sie weit entfernt. Vielleicht wäre es nicht schlecht, ein paar Stunden zu schlafen. Aus meiner Soldatenzeit hatte ich mir die fast schon animalische Fähigkeit bewahrt, mit einem Schlag hellwach zu werden. Ich schwenkte den Rest des Guindado im Glas herum und nahm noch einen Schluck. Mit der Entscheidung war ein Damm gebrochen, und die Erschöpfung überwältigte mich. Sie war immer da gewesen und hatte nur auf einen Augenblick der Schwäche gewartet.
    »Verzeihung, mein Herr?«
    Diesmal erschrak ich nicht mehr ganz so sehr, denn ich erkannte den Servomaten. Die kultivierte Stimme fuhr fort: »Ein Anruf von der Oberfläche für Sie. Ich kann ihn in Ihre Kabine durchstellen lassen, aber sie können ihn auch hier entgegennehmen.«
    Ich überlegte, ob ich in die Kabine gehen sollte, aber ich wollte nicht auf die Aussicht verzichten. »Stell ihn durch«, sagte ich. »Sollte allerdings jemand die Treppe heraufkommen, dann unterbrichst du sofort.«
    »Sehr wohl.«
    Dieterling natürlich – wer sonst? Er konnte noch nicht im Reptilienhaus eingetroffen sein, ich schätzte, dass er etwa zwei Drittel des Weges dorthin zurückgelegt hatte. Etwas zu früh für einen Anruf – ich hätte eigentlich auch keinen erwartet –, aber kein Grund zur Beunruhigung.
    Doch das Gesicht und die Schultern, die nun im Fenster der Gondel erschienen, gehörten nicht Dieterling, sondern Rothand Vasquez. Er schaute mir direkt in die Augen. Irgendwo im Raum gab es wohl eine Kamera, die mein Bild aufgenommen und so bearbeitet hatte, dass es aussah, als stünden wir uns persönlich gegenüber.
    »Tanner. Hör mir genau zu, Mann!«
    »Ich höre«, sagte ich. Ob meine Stimme wohl verriet, wie irritiert ich war? »Was ist so Wichtiges passiert, dass du mich bis hierher verfolgen musst, Red?«
    »Du kannst mich mal, Mirabel. In dreißig Sekunden lachst du nicht mehr.« Das klang nicht wie eine Drohung, eher so, als wollte er mich auf eine schlechte Nachricht vorbereiten.
    »Was ist? Hat uns Reivich schon wieder eins ausgewischt?«
    »Keine Ahnung. Ich habe weitere Erkundigungen über ihn einziehen lassen, und ich bin verdammt sicher, dass er, wie du vermutest, in diesem Fahrstuhl sitzt – nur eine oder zwei Gondeln über dir.«
    »Deshalb rufst du mich also nicht an.« – »Nein. Ich rufe dich an, weil jemand Schlange getötet hat.«
    »Dieterling?« Die Frage kam ganz automatisch.
    Dabei konnte niemand anderer gemeint sein.
    Vasquez nickte. »Ja. Einer von meinen Jungs hat ihn vor etwa einer Stunde gefunden, aber er wusste nicht, mit wem er es zu tun hatte, und deshalb dauerte es eine Weile, bis die Nachricht zu mir kam.«
    Die Fragen drängten wie von selbst über meine Lippen, ohne dass mein Verstand daran beteiligt war. »Wo war er? Was ist geschehen?«
    »In eurem Wagen, dem Wheeler – der stand immer noch an der Norquinco. Von der Straße aus konnte man nicht sehen, dass

Weitere Kostenlose Bücher