Chasm City
Gitta…«
Ihre Stimme hatte einen seltsamen Unterton. »Ja, natürlich.« Sie sah mich eindringlich an. Vielleicht lag es daran, wie das Licht auf ihren Zügen spielte, jedenfalls erschien sie mir wunderschön – wie ein Gemälde von Gaugin. Ich glaube, in diesem Augenblick fasste ich endgültig den Entschluss, Cahuella zu verraten. Der Wunsch war im Unterbewusstsein wohl immer da gewesen, aber jetzt hatte sie ihn mit ihrer herzzerreißenden Schönheit ans Licht geholt. Ob ich mich wohl auch so entschieden hätte, wenn die Schatten aus einem klein wenig anderen Winkel auf ihr Gesicht gefallen wären?
»Tanner, Sie irren sich.«
»Inwiefern?«
»Was Cahuella betrifft. Ich weiß sehr viel mehr über ihn, als Sie ahnen. Sehr viel mehr, als alle anderen hier zu wissen glauben. Ich weiß, dass er ein gewalttätiger Mensch ist und schreckliche Taten begangen hat. Grausamkeiten. Dinge, die nicht einmal Sie ihm zutrauen würden.«
»Sie würden sich wundern«, sagte ich.
»Nein; genau darum geht es, ich würde mich nicht wundern. Ich rede nicht über die kleinen Verbrechen, die er begangen hat, seit Sie ihn kennen. Sie sind kaum der Rede wert, verglichen mit dem, was vorher war. Und so lange Sie davon nichts wissen, können Sie nicht behaupten, ihn zu kennen.«
»Wenn er so schlimm ist, warum bleiben Sie dann bei ihm?«
»Weil er nicht mehr der Unmensch ist, der er einmal war.« Zwischen den Bäumen zuckte ein bläulich-weißer Blitz auf, Augenblicke später war der Knall eines Lasergewehrs zu hören. Etwas brach durch das Laub und fiel zu Boden. Im Geiste sah ich Cahuella herumwandern, bis er die Beute gefunden hatte; wahrscheinlich eine kleine Schlange.
»Manche Leute würden sagen, ein Unmensch ändert sich nie, Gitta.«
»Aber das wäre ein Irrtum. Was uns unmenschlich macht, sind unsere Taten, Tanner. Nur sie bestimmen unseren Charakter; nichts sonst, weder unsere Absichten, noch unsere Gefühle. Aber was sind ein paar böse Taten gegen ein ganzes Leben, besonders gegen ein Leben, wie wir es jetzt führen dürfen?«
»Das gilt nicht für jeden«, sagte ich.
»Cahuella ist älter, als Sie denken, Tanner. Und seine bösen Taten liegen weit, weit zurück. Damals war er viel jünger. Diese Verbrechen haben mich irgendwann zu ihm geführt.« Sie hielt inne und warf einen Blick zu den Bäumen hin, doch bevor ich fragen konnte, was sie damit meinte, sprach sie schon weiter. »Doch der Mensch, den ich fand, war kein Unmensch. Er war grausam, gewalttätig und gefährlich, aber er konnte auch lieben, konnte die Liebe eines anderen Menschen erwidern. Er hatte einen Sinn für die Schönheit und erkannte das Böse in seinen Mitmenschen. Er war nicht so, wie ich erwartet hatte, er war besser. Nicht vollkommen – bei weitem nicht –, aber auch kein Monstrum; das ganz gewiss nicht. Ich stellte fest, dass es mir nicht so leicht fiel, ihn zu hassen, wie ich gehofft hatte.«
»Sie wollten ihn hassen?«
»Ich wollte noch sehr viel mehr. Ich wollte ihn töten oder vor Gericht bringen. Stattdessen…« Wieder hielt sie inne. Wieder zuckte ein bläulicher Blitz durch den Wald: ein zweites Tier fiel tot zu Boden. »Stattdessen stellte ich mir eine Frage; eine Frage, die mir bis dahin nie in den Sinn gekommen war. Wie lange muss man wohl als guter Mensch leben, wie lange muss man Gutes tun, bis die Summe aller guten Taten frühere Verbrechen aufwiegt? Was meinen Sie, ob dafür wohl ein Menschenleben ausreicht?«
»Ich weiß es nicht«; antwortete ich wahrheitsgemäß. »Aber eines weiß ich. Cahuella mag heute ein besserer Mensch sein als früher, aber man würde ihn immer noch nicht unbedingt zum Bürger des Monats wählen, nicht wahr? Wenn Sie ihn so, wie er jetzt ist, als Menschen bezeichnen, der Gutes tut, dann möchte ich lieber nicht wissen, wie er früher war.«
»Das glaube ich Ihnen aufs Wort«, sagte Gitta. »Ich denke, Sie kämen damit auch nicht zurecht.«
Ich wünschte ihr eine gute Nacht und ging, um die anderen Zelte aufzubauen.
Zwanzig
Während die anderen am nächsten Morgen das Lager abbrachen, gingen wir zu fünft bis zu der Stelle an der Piste zurück, wo wir den Hamadryadenbaum gesehen hatten. Von dort bis zu dem mächtigen Stamm war es nur ein kurzer, wenn auch recht unbequemer Weg durch den dichten Dschungel. Ich setzte mich an die Spitze und schnitt mit weiten Schwüngen der Monofil-Sense eine Schneise in das Gestrüpp.
»Er ist noch größer, als es von der Piste aus zu sehen war«, sagte
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