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Chasm City

Chasm City

Titel: Chasm City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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Grenzflächen, die ineinander greifen und damit für die Festigkeit der Struktur sorgen. Die Zellmembran ist von einer zusätzlichen Schicht umgeben, sehen Sie? Das ist im Grunde nur Zellulose.« Er drückte eine andere Taste, die Zellen wurden durchsichtig und füllten sich mit Phantomformen. »Sehen Sie diese kapselartigen Organellen? Das sind naszierende Chloroplasten. Und diese Labyrinthstrukturen sind Teil des endoplasmatischen Retikulums. Das alles sind definitiv Merkmale von Pflanzenzellen.«
    Gitta berührte die Rinde an der Stelle, wo Dieterling seinen ersten Scan durchgeführt hatte. »Der Baum ist also hier mehr wie ein Tier und – hier – mehr wie eine Pflanze?«
    »Natürlich ist ein morphologischer Gradient vorhanden. Die Zellen im Stamm sind reine Pflanzenzellen – ein Xylem-Zylinder um einen Kern aus alter Pflanzenmasse. Wenn die Schlange sich um den Baum windet, ihn umschlingt, ist sie noch ein Tier. Aber wo sie mit dem Stamm in Berührung kommt, verändern sich ihre Zellen. Wir wissen nicht, wodurch das geschieht – ob der Auslöseimpuls aus dem schlangeneigenen Lymphsystem kommt oder ob der Baum selbst das chemische Signal zur Einleitung der Verschmelzung gibt.« Dieterling zeigte auf die Stellen, wo die Spirale nahtlos in den Stamm überging. »Der Prozess der Homogenisierung der Zellen dürfte sich über mehrere Tage hingezogen haben. Als er abgeschlossen war, hatte sich die Schlange untrennbar mit dem Baum verbunden – sie war zu einem Teil von ihm geworden. Aber zu diesem Zeitpunkt war die Schlange immer noch zum größten Teil ein Tier.«
    »Was geschieht mit ihrem Gehirn?«, fragte Gitta.
    »Das braucht sie nicht mehr. Sie braucht, offen gestanden, nicht einmal ein Nervensystem, das wir als solches erkennen würden.«
    »Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
    Dieterling lächelte sie an. »Das Gehirn der Mutter ist das Erste, was die Jungen fressen.«
    »Sie fressen ihre eigene Mutter?«, fragte Gitta entsetzt.
    Die Schlangen vereinigten sich mit den Wirtsbäumen und wurden selbst zu Pflanzen. Das war nur möglich, wenn sie sich im präadulten Stadium befanden, groß genug, um sich vom Boden bis zum Blätterdach um den Baum zu wickeln. Zu diesem Zeitpunkt entwickelten sich im Schoß oder dem entsprechenden Organ der Geschöpfe bereits die jungen Hamadryaden.
    Unser Wirtsbaum hatte höchstwahrscheinlich schon mehrere Verschmelzungen erlebt. Vielleicht war der ursprüngliche echte Baum längst verrottet, und nur noch die Schlingen der toten Hamadryaden waren übrig geblieben. Aber man musste davon ausgehen, dass die letzte Schlange, die sich an den Baum geheftet hatte, theoretisch noch am Leben war, denn sie hatte ihre photosynthetische Haube über dem Stamm weit ausgebreitet und trank damit das Sonnenlicht. Niemand wusste, wie lange die Geschöpfe in diesem letzten, hirnlosen Pflanzenstadium überleben konnten. Bekannt war nur, dass früher oder später die nächste Präadulte kommen und den Baum mit Beschlag belegen würde. Sie würde am Stamm hinauf kriechen, mit dem Kopf die Haube ihrer Vorgängerin durchstoßen und die eigene Haube darüber breiten. Ohne Sonnenlicht schrumpfte die untere Haube bald zusammen. Die neue Schlange verschmolz mit dem Baum und wurde fast gänzlich zur Pflanze. Der kleine Rest an tierischem Gewebe diente den Jungen, die wenige Monate später geboren wurden, als Nahrung. Irgendwann veranlasste sie ein chemischer Impuls, sich aus dem Schoß zu fressen und ihre Mutter zu verspeisen. Nachdem sie das Gehirn vertilgt hatten, arbeiteten sie sich durch die Spiralen nach unten, bis sie endlich als voll ausgebildete, räuberische Jung-Hamadryaden auf dem Boden ankamen.
    »Du hältst das für abscheulich«, sagte Cahuella, der Gittas Gedanken mühelos erriet. »Aber bei terrestrischen Tieren gibt es Lebenszyklen, die wir ebenso abstoßend finden, vielleicht sogar noch schlimmer. Eine soziale Spinne in Australien wird zu einer breiigen Masse, während ihre Jungen zur Reife gelangen.
    Die Evolution kümmert sich nicht weiter um das Schicksal ihrer Geschöpfe, sobald sie ihr genetisches Erbe weitergegeben haben. Erwachsene Tiere müssen an sich nur so lange am Leben bleiben, wie es nötig ist, die Jungen aufzuziehen und vor Räubern zu schützen, aber diese Anforderungen gelten für die Hamadryaden nicht. Selbst Jungtiere sind gefährlicher als alle anderen einheimischen Tierarten, das heißt, es gibt nichts, wovor man sie beschützen müsste. Und sie brauchen auch

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