Chasm City
Mensch, der vor einem Kampf davonlief, auch wenn er dabei sein Leben aufs Spiel setzte.
Gitta schrie ihrem Mann zu, er solle ihr folgen.
Rodriguez richtete die Pistole auf Cahuella, feuerte…
Und schoss daneben. Seine Kugel fuhr in die Rinde eines Baums.
Ich gab mir alle Mühe, den Sinn des Geschehens zu erfassen, aber zum Nachdenken war keine Zeit. Vicuna schien Recht zu behalten. Alles, was Rodriguez in den letzten Sekunden getan hatte, bestätigte die Anschuldigung des Vampirs… und das hieß, Rodriguez war – was?
Ein Hochstapler?
»Das ist für Argent Reivich«, sagte Rodriguez und zielte wieder.
Ich wusste, diesmal würde er treffen.
Ich hob die Monofil-Sense und fuhr mit einem Fingerdruck den unsichtbar dünnen, piezoelektrisch versteiften Schneidefaden zu voller Länge aus: vor mir erstreckte sich eine fünfzehn Meter lange, hyperstarre, monomolekulare Leine.
Rodriguez sah aus dem Augenwinkel, was ich vorhatte, und beging den einen Fehler, der zeigte, dass er kein professioneller Killer war, sondern nur ein Amateur.
Er zögerte.
Ich schwenkte die Sense durch ihn hindurch.
Als ihm dämmerte, was geschehen war – er konnte noch keinen Schmerz gespürt haben, denn es war ein chirurgisch sauberer Schnitt –, ließ er die Pistole fallen. Einen schrecklichen Augenblick lang fürchtete ich schon, einen ebenso gravierenden Fehler begangen zu haben wie er mit seinem Zögern, ich fürchtete, ich hätte den unsichtbaren Sensenfaden nicht ganz so weit ausgefahren, wie ich dachte.
Doch ich hatte keinen Fehler gemacht.
Rodriguez fiel zu Boden – in zwei Teilen.
»Er ist tot«, sagte Dieterling. Wir waren wieder im Lager, in dem einen Zelt, dem man die Luft noch nicht abgelassen hatte. Seit dem Zwischenfall am Baum waren drei Stunden vergangen, und nun beugte sich Dieterling über die Leiche von Doktor Vicuna. »Wenn ich wenigstens verstanden hätte, wie seine Instrumente funktionieren…« Dieterling hatte einen ganzen Haufen der hochentwickelten chirurgischen Spielzeuge des Vampirs neben sich aufgeschichtet, aber sie hatten ihm ihre Geheimnisse nicht verraten. Mit der Ausrüstung aus unserer Reiseapotheke hatten wir gegen die Schusswunde aus Rodriguez’ Waffe nichts ausrichten können, aber wir hatten gehofft, mit dem – für Unsummen von Ultra-Händlern erworbenen – Zauberkasten des Doktors würden wir es schaffen. In den richtigen Händen hätten die Instrumente vielleicht wirklich Wunder gewirkt – aber der einzige Mann, der wusste, wie man sie dazu bringen konnte, war ausgerechnet der, der sie jetzt am dringendsten benötigt hätte.
»Du hast dein Bestes getan«, sagte ich und legte Dieterling die Hand auf die Schulter.
Cahuella schaute mit uns auf Vicunas Leichnam hinab, ohne seine Wut zu verbergen. »Typisch, dass uns der Bastard einfach wegstirbt, wenn wir ihn am nötigsten brauchen. Wie, zum Teufel, soll einer von uns einer Schlange diese Implantate einsetzen?«
»Vielleicht hat der Schlangenfang jetzt nicht mehr absolut oberste Priorität«, bemerkte ich.
»Glauben Sie, das weiß ich nicht, Tanner?«
»Dann benehmen Sie sich entsprechend.« Er funkelte mich für diese aufsässige Bemerkung wütend an, doch ich ließ mich nicht einschüchtern. »Ich konnte Vicuna nicht leiden, aber er hat für Sie sein Leben riskiert.«
»Und wer, verdammt noch mal, hat es zu verantworten, dass Rodriguez ein Hochstapler war? Ich dachte, Sie würden Ihre Leute gründlich überprüfen, Mirabel.«
»Ich habe ihn überprüft«, sagte ich.
»Und das heißt?«
»Das heißt, dass der Mann, den ich getötet habe, nicht Rodriguez gewesen sein kann. Dieser Meinung war übrigens auch Vicuna.«
Cahuella sah mich an wie ein Stück Dreck, das an seiner Schuhsohle klebte, dann stürmte er hinaus und ließ mich mit Dieterling allein.
»Ich hoffe nur«, sagte der, »du hast wenigstens eine Vorstellung, was da draußen passiert ist, Tanner.« Er zog ein Laken über den toten Vicuna und sammelte die blitzenden Chirurgeninstrumente ein.
»Nein. Noch nicht. Es war Rodriguez… wenigstens sah er so aus.«
»Versuch doch noch einmal, im Reptilienhaus anzurufen.«
Er hatte Recht; seit meinem letzten Versuch war eine Stunde vergangen, und damals war ich nicht durchgekommen. Der Satellitengürtel um Sky’s Edge war von jeher unzuverlässig gewesen. Andauernd wurde er von militärischen Sendern gestört, und ständig fielen aus unerfindlichen Gründen einzelne Elemente aus und gingen wieder ans Netz, wenn es den
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