Chasm City
vertrauenswürdig bezeichnen?«
»Es waren Ultras«, sagte ich, als sei das Antwort genug. »Für mich waren sie nicht so leicht zu durchschauen wie die Leute, mit denen Cahuella sonst Kontakte pflegte. Das muss aber nicht zwangsläufig heißen, dass sie uns verraten würden.«
»Was hätten sie denn zu gewinnen, wenn sie uns nicht verrieten?«
Das, so fiel mir jetzt auf, war die eine Frage, die ich mir nie gestellt hatte. Ich hatte den Fehler gemacht, Orcagna wie irgendeinen gewöhnlichen Geschäftsfreund von Cahuella zu behandeln – wie jemanden, der auch in Zukunft an guten Beziehungen zu ihm interessiert wäre. Wenn aber Orcagna und seine Besatzung nun gar nicht die Absicht hätten, in den nächsten Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten nach Sky’s Edge zurückzukehren? Dann könnten sie ungestraft alle Brücken hinter sich verbrennen.
»Vielleicht wusste Orcagna gar nicht, dass der Killer auf uns angesetzt werden sollte«, sagte ich. »Irgendein Verbündeter von Reivich präsentierte ihm einfach einen Mann, und gab ihm den Auftrag, sein Aussehen zu verändern; und einen zweiten, dessen Erinnerungen auf den ersten übertragen werden sollten…«
»Und du glaubst, Orcagna hätte das alles fraglos hingenommen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich, aber das Szenario überzeugte mich auch nicht so ganz.
Southey seufzte. Ich wusste, was er dachte. Das Gleiche wie ich. »Tanner, ich glaube, von jetzt an brauchen wir eine Menge Fingerspitzengefühl.«
»Zumindest ein Gutes hat die Geschichte«, sagte ich. »Nach dem Tod des Doktors muss Cahuella seine Schlangenjagd aufgeben. Auch wenn es ihm selbst noch nicht ganz klar ist.«
Southey rang sich ein dünnes Lächeln ab. »Wir haben die neue Grube bereits zur Hälfte ausgehoben.«
»Ich würde an eurer Stelle keine Überstunden einlegen, um sie bis zu unserer Rückkehr fertig zu haben.« Ich hielt inne und sah auf die Karte mit dem blinkenden Punkt, der Reivichs Vormarsch anzeigte. »Wir werden noch eine Nacht im Dschungel verbringen, etwa sechzig Kilometer nördlich von hier. Morgen machen wir uns auf den Heimweg.«
»Dann ist heute die Nacht der Nächte?«
Nachdem Rodriguez und der Doktor tot waren, wären wir bei dem geplanten Hinterhalt zahlenmäßig in der Minderheit. Aber wir hätten immer noch genug Leute, um einen Sieg beinahe garantieren zu können.
»Morgen früh. Reivich müsste uns zwei Stunden vor Mittag in die Falle laufen, wenn er sein Tempo beibehält.«
»Viel Glück, Tanner.«
Ich nickte und unterbrach die Verbindung zum Reptilienhaus. Draußen suchte ich Cahuella und berichtete ihm, was ich von Southey erfahren hatte. Cahuella hatte sich seit unserem letzten Gespräch ein wenig beruhigt. Ringsum waren seine Männer damit beschäftigt, den Rest des Lagers abzubrechen. Er selbst schnallte sich einen Patronengurt aus schwarzem Leder mit zahlreichen kleinen Fächern für Patronen, Magazine, Energiezellen und anderes Zubehör um, der ihm von der Schulter bis zur Taille reichte.
»Das bringen sie also inzwischen auch fertig? Übertragung von Erinnerungen?«
»Ich weiß nicht, wie dauerhaft die Sache gewesen wäre, aber – ja – ich bin einigermaßen sicher, sie hätten Rodriguez so trawlen können, dass Reivichs Mann über genügend Wissen verfügte, um bei uns keinen Verdacht zu erregen. Dass sie sein Aussehen so überzeugend verändern konnten, erstaunt Sie weniger?«
Darauf wollte er offenbar nicht sofort antworten. »Ich weiß, dass sie… alles mögliche verändern können, Tanner.«
Manchmal glaubte ich, Cahuella so gut zu kennen wie niemanden sonst; manchmal standen wir uns so nahe wie zwei Brüder. Ich wusste, dass er grausam sein konnte und dass er bei seinen Grausamkeiten instinktiv mehr Phantasie entwickelte, als ich jemals aufgebracht hätte. Ich musste mich in der Grausamkeit üben wie ein fleißiger Musiker, dem die angeborene Virtuosität des Genies fehlte. Aber wir sahen die Welt aus einem ähnlichen Blickwinkel, waren ähnlich misstrauisch gegenüber anderen Menschen und besaßen die gleiche Begabung für den Umgang mit Waffen. Doch es gab auch Momente, wie eben jetzt, da war mir Cahuella vollkommen fremd; da spürte ich, dass er unzählige Geheimnisse hatte, die er niemals mit mir teilen würde. Ich dachte an das Gespräch mit Gitta am Abend zuvor; an ihre Unterstellung, ich kenne von ihm nur die Spitze des Eisbergs.
Eine Stunde später waren wir unterwegs. Die beiden Leichen – Vicuna und den zweigeteilten Rodriguez –
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