Chasm City
Von einer der Inseln aufzubrechen und in die Dunkelheit hinaus zu fahren, war wie ein Sprung ins kalte Wasser. Man musste sich darauf verlassen, dass einen die Navigationssysteme des Shuttles nicht aufs weite Meer hinaus führten. Sky wälzte wie üblich Mordpläne und überlegte, ob es sinnvoll wäre, den Autopiloten eines Taxis zu sabotieren. Der Eingriff müsste erfolgen, unmittelbar bevor sich sein ahnungsloses Opfer auf den Weg zu einem der anderen Schiffe machte. Das Shuttle so weit zu verwirren, dass es in die völlig falsche Richtung flog und in der Finsternis verschwand, wäre ein Kinderspiel. Fügte man noch Treibstoffverlust oder einen Ausfall der lebenserhaltenden Systeme hinzu, dann bot sich hier eine wahrhaft verlockende Aussicht.
Aber nicht für ihn. Da er Balcazar stets begleiten musste, war diese Strategie von nur begrenztem Wert.
Er ließ das Spitzengespräch noch einmal Revue passieren. Die Captains der übrigen Schiffe hatten sich redlich bemüht, Balcazars Konzentrationslücken zu übersehen, die sich – gelegentlich – bis zur Unzurechnungsfähigkeit steigern konnten, aber Sky waren die besorgten Blicke nicht entgangen, die über die blanke Mahagonifläche des Konferenztisches hinweg ausgetauscht wurden, wenn die anderen glaubten, er, Sky, sehe gerade nicht hin. Die Führer der Flottille waren offenkundig verstört darüber, dass einer der ihren so deutlich im Begriff war, den Verstand zu verlieren. Wer wollte sagen, ob sie dieser speziellen Form von Wahnsinn nicht alle verfallen würden, wenn sie erst in Balcazars Alter kamen? Sky hatte natürlich mit keiner Miene erkennen lassen, dass der Gesundheitszustand seines Vorgesetzten in irgendeiner Weise Anlass zur Besorgnis gab. Das wäre der Gipfel an Illoyalität gewesen.
Nein; er hatte sein Pokergesicht aufgesetzt, den gehorsamen Untergebenen gespielt, zu jeder noch so wirren Äußerung seines Captains pflichtschuldigst genickt, und mit keinem Wort zum Ausdruck gebracht, dass Balcazar in seinen Augen genau so verrückt war, wie die anderen Captains befürchteten.
Mit anderen Worten: ein treuer Diener.
Vom Armaturenbrett des Shuttles ertönte ein Ping. Die Santiago war jetzt riesengroß, aber da die Innenbeleuchtung der Kabine brannte, war sie immer noch schlecht zu sehen. Balcazar schnarchte und sabberte gleichzeitig, ein silbriger Speichelfaden zog sich wie ein dezentes neues Rangabzeichen über eine seiner Epauletten.
»Töte ihn«, sagte Clown. »Los jetzt, töte ihn! Noch hast du Zeit dazu.«
Clown war nicht wirklich im Shuttle anwesend – Sky wusste das –, aber in gewissem Sinne war er doch präsent. Die hohe, zittrige Stimme kam nicht aus Skys Kopf, sondern von etwas weiter hinten.
»Ich will ihn nicht töten«, sagte Sky und fügte bei sich ein stummes ›noch nicht‹ hinzu.
»Wenn du ehrlich bist, willst du es schon. Er steht dir im Weg. Das war schon immer so. Er ist ein alter, kranker Mann. Wenn du ihn jetzt tötest, tust du ihm eigentlich sogar einen Gefallen.« Clowns Stimme wurde leiser. »Sieh ihn dir an. Er schläft wie ein Säugling. Wahrscheinlich träumt er gerade von seligen Kindertagen.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich bin Clown. Und Clown weiß alles.«
Vom Armaturenbrett meldete eine leise, metallische Stimme, sie seien im Begriff, in die Sperrzone um die Santiago einzufliegen. In Kürze würde das automatische Verkehrsleitsystem das Shuttle erfassen und zu seinem Liegeplatz steuern.
»Ich habe noch nie einen Menschen getötet«, sagte Sky.
»Aber du hast schon oft mit dem Gedanken gespielt, nicht wahr?«
Das war nicht zu bestreiten. Sky schwelgte ständig in Mordphantasien. Er dachte sich immer neue Todesarten für seine Feinde aus – Menschen, die ihn gekränkt hatten oder die er im Verdacht hatte, sie würden hinter seinem Rücken über ihn herziehen. Gewisse Personen hätten in seinen Augen schon einzig und allein deshalb den Tod verdient, weil sie zu schwach oder zu vertrauensselig waren. Auf einem Schiff wie der Santiago gab es genügend Möglichkeiten, einen Mord zu begehen, aber man hatte kaum Chancen, dabei unentdeckt zu bleiben. Sky hatte allerdings eine rege Phantasie, und er hatte sich lange genug mit dem Thema beschäftigt, um jederzeit ein Dutzend vielversprechender Strategien zur Reduzierung der Zahl seiner Feinde parat zu haben.
Doch bevor Clown jetzt zu ihm sprach, hatte er es dabei bewenden lassen. Die grausigen Todesszenarien im Geiste immer wieder durchzuspielen und langsam
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