Chasm City
waren außerdem darauf eingerichtet, für ihre ehemaligen Schützlinge auch andere Dienstleistungen zu erbringen – sie belieferten sie mit Informationen und stellten sich auch für eine Tätigkeit zur Verfügung, die man nur als besonders zivilisierte Form von Spionage bezeichnen konnte. Deshalb lag es stets in ihrem Interesse, leicht erreichbar zu sein.
Ich musste die Halle verlassen und in den Regen hinausgehen, bevor sich das Telefon in eins der noch bestehenden städtischen Datensysteme einwählen konnte. Selbst dann gelang es mir erst nach vielen Versuchen, eine Verbindung zum Hospiz zu bekommen. Als das Gespräch etliche Sekunden später endlich zustande kam, war die Zeitverzögerung beträchtlich, und es gab immer wieder Unterbrechungen, wenn Datenpakete ziellos im Raum um Yellowstone herumgeworfen wurden oder gelegentlich sogar auf parabolische Bahnen gerieten, die nicht wieder zurück führten.
»Hier Bruder Alexei von den Eisbettlern. Wie kann ich Gott durch Sie dienen?«
Auf dem Schirm war ein hageres Gesicht mit hohlen Wangen erschienen, die Augen strahlten mich mit der ruhigen Güte einer Eule an. Auffallend war der violette Bluterguss, der das eine Auge einrahmte.
»So, so«, sagte ich. »Bruder Alexei. Wie nett. Was ist passiert? Sind Sie etwa auf Ihre Gartenschaufel gefallen?«
»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, mein Freund.«
»Dann muss ich Ihr Gedächtnis wohl ein wenig auffrischen. Mein Name ist Tanner Mirabel. Ich kam vor ein paar Tagen mit der Orvieto an und wurde in Ihr Hospiz gebracht.«
»Ich… glaube nicht, dass ich mich an Sie erinnere, Bruder.«
»Seltsam. Dabei hatten wir uns damals in der Höhle ewige Freundschaft geschworen, wissen Sie nicht mehr?«
Er knirschte mit den Zähnen, ohne seine wohlwollende Miene aufzugeben. »Nein… leider. Kein Treffer. Aber fahren Sie doch bitte fort.« Er trug die Kutte der Eisbettler und hatte die Hände vor dem Bauch gefaltet. Hinter ihm bot sich im Widerschein des künstlichen Sonnenlichts die Aussicht auf Weinterrassen, die immer steiler wurden, bis sie sich schließlich nach innen wölbten. Überall schwammen kleine Hütten und Ruheinseln, wie weiße Eisberge auf dem Ozean aus üppigem Grün.
»Ich muss Schwester Amelia sprechen«, sagte ich. »Sie war während meines Aufenthaltes sehr freundlich zu mir, und sie hatte meine persönlichen Sachen in ihrer Obhut. Wenn ich mich recht erinnere, sind Sie ein guter Bekannter von ihr?«
Das halbe Lächeln verrutschte ihm nicht. »Schwester Amelia ist eine unserer gütigsten Seelen. Es überrascht mich nicht, dass Sie sich bei ihr bedanken möchten. Leider ist sie derzeit unpässlich und liegt in den Kryo-Krypten. Darf ich Ihnen vielleicht – auf meine Weise – behilflich sein? Auch wenn ich Sie natürlich niemals mit der Hingabe betreuen könnte, die Sie von unserer engelsgleichen Schwester Amelia erfahren haben.«
»Was haben Sie ihr angetan, Alexei?«
»Gott möge Ihnen verzeihen.«
»Schluss mit dem frommen Getue. Ich breche Ihnen das Genick, wenn Sie sich an ihr vergriffen haben. Das ist Ihnen doch klar, nicht wahr? Ich hätte es gleich tun sollen, als ich Sie noch in Griffweite hatte.«
Daran hatte er eine Weile zu kauen. Endlich antwortete er. »Nein, Tanner… ich habe ihr nichts getan. Sind Sie jetzt zufrieden?«
»Dann holen Sie mir Amelia an den Apparat.«
»Warum wollen Sie unbedingt mit ihr sprechen anstatt mit mir?«
»Ich weiß aus meinen Unterhaltungen mit Schwester Amelia, dass sie mit vielen Neuankömmlingen zu tun hatte, die ins Hospiz gebracht wurden, und ich möchte gerne wissen, ob sie sich an einen Mister…« Ich wollte schon Quirrenbach sagen, aber dann biss ich mir auf die Zunge.
»Entschuldigung, ich hatte den Namen nicht richtig verstanden.«
»Schon gut. Stellen Sie mich nur zu Amelia durch.«
Er zögerte, dann bat er mich, meinen eigenen Namen noch einmal zu wiederholen.
»Tanner«, knirschte ich. Es war, als hätten wir uns eben erst bekannt gemacht.
»Nur einen Augenblick… äh… Geduld, Bruder.« Die Maske saß immer noch fest, aber die Stimme klang jetzt deutlich angespannt. Er schob den Ärmel seiner Kutte zurück. Darunter trug er ein Bronzearmband, in das er jetzt sehr leise und möglicherweise in einer besonderen Eisbettlersprache hineinsprach. Auf dem Armband erschien ein Bild, aber es war so klein, dass ich nur einen rosa Fleck erkennen konnte – vielleicht ein menschliches Gesicht, vielleicht das von Schwester Amelia. Fünf oder sechs
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