Chasm City
Sekunden vergingen, dann zog Alexei den Ärmel wieder über das Armband.
»Nun?«
»Ich kann sie im Moment nicht erreichen. Sie kümmert sich um die Matsch… um die Kranken, und es wäre ganz und gar nicht ratsam, sie dabei zu stören. Aber wie ich soeben höre, möchte sie ebenso dringend mit Ihnen sprechen wie umgekehrt.«
»Sie will mit mir sprechen?«
»Wenn Sie hinterlassen würden, wo Amelia Sie erreichen kann…«
Ich unterbrach die Verbindung zum Hospiz, bevor Alexei den Satz vollenden konnte. Im Geiste sah ich ihn im Weinberg stehen und verdrossen den erloschenen Bildschirm anstarren, mit dem er eben noch gesprochen hatte. Seine Worte verklangen. Er hatte versagt. Er hatte mich aufspüren wollen, aber es war ihm nicht gelungen. Reivichs Leute waren also auch an die Eisbettler herangetreten und hatten sie als Spitzel gewonnen. Man hatte nur darauf gewartet, dass ich mich meldete, in der Hoffnung, ich wäre unvorsichtig genug, meinen Aufenthaltsort verraten.
Es hätte fast geklappt.
Zebras Nummer fand ich erst nach einigen Minuten heraus. Ich hatte mir gemerkt, dass sie sich Taryn genannt hatte, bevor sie sich mir mit ihrem Decknamen in der Sabotagebewegung vorstellte. Ich hatte keine Ahnung, ob der Vorname Taryn in Chasm City sehr häufig war, aber diesmal war das Glück auf meiner Seite – es gab weniger als ein Dutzend Personen, die so hießen. Und auch sie brauchte ich nicht alle anzurufen, denn das Telefon zeigte mir einen Stadtplan, und nur eine Nummer befand sich in der näheren Umgebung des Abgrunds. Die Verbindung klappte sehr viel schneller als die zum Hospiz, aber auch hier ging es nicht ohne Verzögerungen ab, und zwischendurch rauschte es in der Leitung, als müsste sich das Signal durch ein transkontinentales Telegrafenkabel quälen, anstatt nur ein paar Kilometer smogbelasteter Luft zu überwinden.
»Tanner, wo bist du? Warum bist du weggegangen?«
»Ich…« Ich hielt inne. Ich war im Begriff gewesen, ihr zu sagen, ich befände mich unweit des Grand Central Terminals, falls sie das nicht schon der Aussicht hinter mir entnommen haben sollte. »Nein, lieber nicht. Ich denke, ich kann dir vertrauen, Zebra, aber du stehst dem Großen Spiel zu nahe. Es ist besser, du weißt es nicht.«
»Du traust mir zu, dass ich dich verraten würde?«
»Nein, obwohl ich es dir nicht einmal verdenken könnte. Aber ich kann nicht riskieren, dass mir jemand durch dich auf die Spur kommt.«
»Wer sollte das denn noch sein? So viel ich höre, hast du bei Waverly ganze Arbeit geleistet.« Ihr gestreiftes Gesicht füllte den Schirm, die blutunterlaufenen Augen betonten den schwarz-weißen Teint.
»Er hat beim Großen Spiel für beide Seiten teilgenommen. Dass ihn das früher oder später das Leben kosten würde, hätte ihm klar sein müssen.«
»Er mag ein Sadist gewesen sein, aber er war doch einer von uns.«
»Was sollte ich denn tun – freundlich lächelnd darum bit-’ ten, er möge mich doch laufen lassen?« Der warme Regen prasselte etwas heftiger vom Himmel, und ich stellte mich unter einen Gebäudevorsprung und legte schützend die Hand über das Telefon. Zebras Gesicht flimmerte wie ein Spiegelbild im Wasser. »Ich hatte nichts gegen Waverly persönlich, wenn du es genau wissen willst. Jedenfalls nichts, was man nicht mit einer warmen Kugel aus der Welt schaffen konnte.«
»Nach allem, was ich höre, hast du aber keine Kugel benutzt.«
»Er hat mich in eine Lage gebracht, in der mir keine andere Wahl mehr blieb, als ihn zu töten. Und das habe ich sehr professionell getan, falls dich das beruhigt.« Die Einzelheiten ersparte ich ihr. Sie brauchte nicht zu wissen, wie Waverly ausgesehen hatte, als ich ihn fand. Es würde nichts ändern, wenn sie erführe, dass er den Sammlern im Mulch in die Hände gefallen war.
»Du kannst recht gut auf dich aufpassen, nicht wahr? Das dachte ich mir schon, als ich dich in diesem Gebäude fand. Die wenigsten schaffen es so weit. Schon gar nicht, wenn sie angeschossen sind. Wer bist du, Tanner Mirabel?«
»Ein Mensch, der um sein Leben kämpft«, sagte ich. »Es tut mir Leid, dass ich dich bestohlen habe. Du hast mir geholfen, und dafür bin ich dankbar. Und wenn ich eine Gelegenheit finde, meine Dankbarkeit zu beweisen und dich für die Dinge zu entschädigen, die ich dir entwendet habe, werde ich sie nützen.«
»Warum bist du denn weggegangen?«, fragte Zebra. »Ich hatte dir doch bis zum Ende des Großen Spiels Asyl versprochen.«
»Ich hatte leider
Weitere Kostenlose Bücher