Chasm City
seines Erfahrungsbereichs, dass er die Bedrohung für seine menschlichen Schützlinge nicht erkannt hatte. Ich überlegte, ob man in der Orbitalstation wohl bereits von der Durchtrennung des Kabels erfahren hatte. Mit ziemlicher Sicherheit ja – und mit ziemlicher Sicherheit war auch für die Gondeln, die noch unterwegs waren, keine Rettung möglich.
Trotz alledem war die obere Hälfte des Kabels der unteren vorzuziehen. Wenn ich annahm, dass der Abschnitt unterhalb der Schnittstelle tausend Kilometer lang war, dann würde es mehrere Minuten dauern, bis das obere Ende auf dem Planeten aufschlüge – lange Zeit würde es sogar so aussehen, als hinge das Kabel so steif in der Luft wie das Seil eines indischen Fakirs. Doch es befände sich bereits im freien Fall und wäre durch nichts in der Welt mehr aufzuhalten. Eine Million Tonnen Kabel mit den zugehörigen Gondeln, manche davon mit Fahrgästen besetzt, würden die Atmosphäre durchschneiden. Eine langsame und ziemlich qualvolle Art zu sterben.
Wer mochte das getan haben?
Es war naiv zu glauben, dass es nichts mit meiner Anwesenheit zu tun hatte. Reivich hatte uns in Nueva Valparaiso hereingelegt, und wäre der Angriff auf die Brücke nicht erfolgt, ich wäre noch immer damit beschäftigt gewesen, Miguel Dieterlings Tod zu verarbeiten. Dass Rothand Vasquez die Bombe gelegt haben sollte, konnte ich mir nicht vorstellen, auch wenn ich ihn für den Mord an meinem Freund noch nicht endgültig von der Liste der Verdächtigen gestrichen hatte. Vasquez hatte einfach nicht genügend Phantasie für ein solches Unternehmen – von den Mitteln ganz zu schweigen. Und die Indoktrinierung durch den Haussmann-Kult hätte es ihm sicher so gut wie unmöglich gemacht, an einen Angriff auf die Brücke auch nur zu denken. Aber irgendjemand hatte es ganz eindeutig auf mich abgesehen. Vielleicht hatte derjenige eine Bombe in eine der unteren Gondeln geschmuggelt, weil man dachte, ich säße darin oder befände mich zumindest noch in der unteren Hälfte – vielleicht hatte er auch eine Rakete abgeschossen und das Ziel nicht richtig getroffen. Theoretisch könnte es Reivich gewesen sein – er hatte Freunde mit den richtigen Beziehungen. Aber ich hätte nie gedacht, dass er zu einer derart skrupellosen Tat fähig wäre: dass er kaltblütig den Tod von einigen hundert Unschuldigen in Kauf nähme, nur um ganz sicher zu gehen, dass ein bestimmter Mann darunter war.
Aber vielleicht war Reivich ja lernfähig.
Wir folgten dem Servomaten zu den Spinden mit der Ausrüstung für Notfälle. Jeder Spind enthielt einen Raumanzug. Für Raumfahrerbegriffe waren es wahre Antiquitäten, sie legten sich nicht selbsttätig um den Körper, sondern man musste sich aus eigener Kraft hineinzwängen. Obwohl sie alle um eine Nummer zu klein zu sein schienen, glitt ich in den meinen so mühelos hinein wie in einen Kampfpanzer. Die aufziehbare Pistole verbarg ich sorgfältig in derjenigen von den vielen geräumigen Taschen, die eigentlich für eine Signalfackel bestimmt war.
Niemand bemerkte die Waffe.
»Das ist doch wirklich nicht nötig!«, protestierte der Aristokrat aus dem Süden. »Wozu brauchen wir denn einen von diesen verdammten…«
»Hören Sie zu!«, sagte ich. »Wenn uns die Kompressionswelle erreicht – und das kann jeden Moment so weit sein –, könnten wir mit solcher Wucht zur Seite geschleudert werden, dass Sie sich alle Knochen im Leibe brechen. Deshalb sollten Sie den Anzug tragen. Er bietet einen gewissen Schutz.«
Aber vielleicht nicht genug, dachte ich bei mir.
Meine sechs Leidensgenossen kämpften sich mit mehr oder weniger Selbstvertrauen in die Anzüge. Mit meiner Hilfe waren nach etwa einer Minute alle fertig, nur der hünenhafte Aristokrat beklagte sich weiter über die schlechte Passform, als hätte er alle Zeit der Welt, sich darüber aufzuregen. Als er auch noch anfing, die Anzüge in den anderen Spinden durchzusehen, weil er vielleicht hoffte, sie hätten nicht alle die gleiche Größe, wurde ich unruhig.
»Sie müssen sich beeilen. Schließen Sie jetzt das Ding ohne Rücksicht auf Hautabschürfungen oder Quetschungen.«
Im Geiste sah ich, wie der tödliche Knick im Kabel, Kilometer um Kilometer verschlingend, auf uns zu raste. Die unteren Gondeln hatte er wohl bereits passiert. Würde die Welle wohl so heftig sein, dass sie die Gondel vom Kabel riss?
Bevor ich die Überlegung zu Ende geführt hatte, war es so weit.
Und es war viel schlimmer, als ich es mir
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