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Chasm City

Chasm City

Titel: Chasm City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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später, als erwachsener Mann, sollte die Erinnerung an diesen Tag die früheste sein, die er mit einer bestimmten Zeit, einem Ort verbinden und mit Sicherheit der realen Welt zuordnen konnte. Sie war kein Hirngespinst, das die unscharfe Grenze zwischen der Wirklichkeit und den Träumen eines Kindes überschritten hatte.
    Seine Eltern hatten ihm verboten, das Kinderzimmer zu verlassen, nachdem er verbotenerweise das Delphinarium besucht hatte: ein dunkles, feuchtes Loch im Bauch der großen Santiago. Dabei war es eigentlich Constanzas Schuld: sie hatte ihn durch ein Labyrinth von Bahntunnels, Laufstegen, Rampen und Treppenschächten zu dem Raum geführt, wo man die Delphine versteckte. Constanza war nur zwei oder drei Jahre älter als Sky, aber in seinen Augen gehörte sie schon fast zu den Großen; sie besaß die überlegene Weisheit aller Erwachsenen. Alle sagten, Constanza sei ein Genie; eines Tages – vielleicht gegen Ende der langen Reise der Flottille durch das Weltall – würde sie Captain werden. Das war ein Scherz, aber Sky spürte den Ernst dahinter. Vielleicht, dachte er manchmal, würde sie ihn zu ihrem Stellvertreter machen, wenn der Tag kam, und dann würden sie gemeinsam im Kontrollraum sitzen, den er immer noch nicht kennen gelernt hatte. Die Vorstellung war gar nicht so abwegig: auch ihm versicherten die Erwachsenen immer wieder, er sei ein ungewöhnlich aufgewecktes Kind; manchmal war sogar Constanza überrascht, was ihm so alles einfiel. Aber auch Constanza unterliefen Fehler, erinnerte Sky sich später, so klug sie auch war. Sie hatte es geschafft, ungesehen mit ihm ins Delphinarium zu gelangen, aber sie war gescheitert, als es darum ging, ihn ebenso unbemerkt wieder zurück zu bringen.
    Dennoch hatte es sich gelohnt.
    »Die Erwachsenen können sie nicht leiden«, hatte Constanza gesagt, als sie vor dem Becken mit den Delphinen standen. »Ihnen wäre es am liebsten, sie würden gar nicht existieren.«
    Die Ablaufgitter unter ihren Füßen waren nass und schmierig. Das Becken, ein Glaskasten mit hohen Wänden, der zwanzig, dreißig Meter weit in den dunklen Frachtraum hinein reichte, erstrahlte in einem fahlen, bläulichen Licht. Sky spähte angestrengt in die türkisgrünen Tiefen. In der Ferne sah er die Delphine, graue Schatten, zielstrebig durch das Wasser gleiten, sah ihre Umrisse im Spiel des Lichts verschwimmen und wieder erscheinen. Sie sahen eigentlich nicht wie Tiere aus, eher wie Seifenfiguren; glitschig und nicht ganz real.
    Sky hatte die Hand gegen das Glas gedrückt. »Was haben die Erwachsenen denn gegen sie?«
    Constanzas Antwort klang zurückhaltend. »Irgendetwas stimmt nicht mit ihnen, Sky. Dies sind nicht mehr dieselben Delphine, die auf dem Schiff waren, als es den Merkur-Orbit verließ, sondern deren Enkel oder ihre Urenkel – so genau weiß ich das nicht. Sie haben nie etwas anderes kennen gelernt als dieses Becken, und bei ihren Eltern war das schon genauso.«
    »Ich kenne auch nichts anderes als dieses Schiff.«
    »Aber du bist kein Delphin; du hast nie erwartet, in einem Ozean schwimmen zu können.« Constanza verstummte. Eines der Tiere verließ seine Gefährten, die sich am anderen Ende des Beckens um eine Reihe von Fernsehschirmen mit verschiedenen Bildern drängten, und kam auf sie zugeschwommen. Sobald es das klare Wasser unmittelbar hinter dem Glas erreichte, entwickelte es von einem Augenblick zum anderen so etwas wie Persönlichkeit; aus dem nahezu durchsichtigen Schatten wurde mit einem Schlag eine große, potenziell gefährliche Muskelmaschine. Sky hatte im Kinderzimmer Fotos von Delphinen gesehen und fand, dass dieses Tier irgendwie davon abwich: der Schädel war mit einem Netz feinster Linien überzogen, und die geometrisch geformten Höcker und Wülste im Umkreis der Augen verrieten, wie viele harte Metall- und Keramikimplantate im Fleisch des großen Meeressäugers eingebettet waren.
    »Hallo«, sagte Sky und klopfte an das Glas.
    »Das ist Sleek«, sagte Constanza. »Glaube ich jedenfalls. Sleek ist einer von den Ältesten.«
    Der Delphin sah Sky aufmerksam an. Das breite Maul vermittelte den Eindruck von Gutmütigkeit, aber auch von Schwachsinn. Dann brachte er sich mit einer blitzschnellen Drehung direkt vor Sky in Stellung.
    Der Junge spürte, wie das Glas lautlos erzitterte. Vor Sleeks Kopf entstanden seltsam geschwungene Linien aus sprudelnden Luftblasen. Zunächst wirkten sie eher zufällig – wie die ersten Pinselstriche eines Künstlers –, doch

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