Chasm City
elektromagnetische Schockwelle hatte die Gondel erfasst und war dann über uns hinweggefegt. Ich hatte seit meiner Kindheit keinen Atomblitz mehr gesehen. In manchen Dingen zeigte der Krieg immerhin einen Funken Verstand, jedenfalls hatte er sich zumeist auf konventionelle Waffen beschränkt. Ich konnte die Sprengkraft der Bombe nicht schätzen, ohne zu wissen, wie weit der Blitz entfernt gewesen war, aber aus dem Fehlen der charakteristischen Pilzwolke schloss ich, dass die Explosion hoch über dem Planeten stattgefunden hatte. Das ergab keinen Sinn: Atombomben eigneten sich nur zur Einleitung eines Angriffs mit konventionellen Waffen, und dafür war jetzt nicht die richtige Jahreszeit. Noch sinnloser wäre eine Explosion in großer Höhe – alle militärischen Nachrichtenverbindungen waren gegen Angriffe mit elektromagnetischen Schockwellen abgesichert.
Vielleicht ein Unfall?
Während ich noch darüber nachdachte, kam jemand die Wendeltreppe zwischen den Stockwerken heraufgelaufen. Ich erkannte einen der Aristokraten, mit denen ich eben noch gespeist hatte. Seinen Namen hatte ich gleich wieder vergessen, aber sein levantinischer Gesichtsschnitt und der goldbraune Teint wiesen ihn ziemlich eindeutig als Nordländer aus. Er war kostbar gekleidet, sein knielanger Mantel war in schillernden Smaragd- und Aquamarintönen gehalten. Aber er war sichtlich erregt. Die Frau mit dem Fuchsgesicht war ihm gefolgt, nun hielt sie auf der letzten Stufe inne und musterte uns beide misstrauisch.
»Haben Sie das gesehen?«, fragte der Mann. »Wir wollten es genau wissen, deshalb sind wir hier herauf gestiegen. Hier hat man die beste Aussicht. Das war eine ziemlich große Explosion. Kam mir fast vor wie eine…«
»Atombombe?«, fragte ich. »Ich glaube, das war es auch.« Ich sah immer noch rosa Geisterbilder durch mein Gesichtsfeld schweben.
»Gottlob waren wir nicht näher dran.«
»Mal sehen, was die öffentlichen Sender berichten«, sagte die Frau und konzentrierte sich auf das Display in ihrem Armband. Das Datennetz, von dem es gespeist wurde, war wohl stabiler als die Verbindung, die Vasquez gewählt hatte, denn der Zugriff klappte sofort. Bilder und Textzeilen strömten über den diskreten kleinen Bildschirm.
»Nun?«, fragte ihr Mann. »Gibt es schon irgendwelche Erklärungen?«
»Ich weiß nicht, aber…« Sie zögerte, ihr Blick heftete sich auf eine Stelle. »Nein. Das kann nicht wahr sein. Das kann einfach nicht wahr sein!«
»Was? Was sagen sie denn?«
Sie sah erst ihren Mann und dann mich an. »Sie sagen, es sei ein Angriff auf die Brücke gewesen. Die Explosion hätte das Kabel durchtrennt.«
Die nächsten Sekunden dehnten sich wie in einem Albtraum. Die Gondel fuhr ruhig weiter.
»Nein«, sagte der Mann. Er rang um Fassung, aber nur mit mäßigem Erfolg. »Das ist nicht möglich. Das muss ein Irrtum sein.«
»Ich hoffe es bei Gott«, sagte die Frau mit zitternder Stimme. »Mein letzter Neuralscan ist sechs Monate her…«
»Was sind schon sechs Monate«, sagte der Mann. »Ich wurde in diesem Jahrzehnt noch gar nicht gescannt!«
Die Frau atmete heftig aus. »Es muss auf jeden Fall ein Irrtum sein. Schließlich führen wir immer noch ein zivilisiertes Gespräch, nicht wahr? Wir stürzen nicht schreiend auf den Planeten zu.« Wieder starrte sie stirnrunzelnd auf ihr Armband-Display.
»Was sagt das Ding?«, fragte der Mann.
»Immer noch das Gleiche wie eben.«
»Ein Fehler oder eine böswillige Lüge, das ist alles.«
Ich überlegte, wie viel ich den beiden in diesem Stadium zumuten durfte. Ich war natürlich nicht nur ein einfacher Leibwächter. Ich hatte jahrelang für Cahuella gearbeitet, und es gab nicht viel auf dem Planeten, worüber ich mich in dieser Zeit nicht informiert hatte – auch wenn die Informationen gewöhnlich irgendwelchen militärischen Zwecken dienten. Über die Brücke wusste ich nicht allzu viel, aber ich verstand etwas von Hyperdiamant, dem künstlichen Kohlenstoff-Allotrop, aus dem das Kabel gesponnen war.
»Tatsächlich«, sagte ich, »halte ich es durchaus für möglich.«
»Aber es hat sich nichts verändert!«, sagte die Frau.
»Das würde ich auch nicht unbedingt erwarten.« Ich zwang mich meinerseits zur Ruhe und schaltete um auf geistiges Krisenmanagement, wie ich es als Soldat gelernt hatte. Irgendwo im Hinterkopf schrie ein Teil von mir vor Angst, aber das versuchte ich zu überhören. »Selbst wenn das Kabel durchtrennt worden wäre, was glauben Sie, wie weit
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