Chasm City
auch ein Gesicht, das ich kannte, ganz dicht bei Reivich.
Sie hatte die oberflächlichen Hautverfärbungen entfernt, aber die Knochenstruktur war kaum verändert und der Gesichtsausdruck war mir sehr vertraut.
Ich hatte Zebra gesehen.
»Ich warte immer noch«, sagte Chanterelle. »Dieses bedeutungsschwere Stirnrunzeln kann ich nämlich nicht unbegrenzt ertragen.«
»Entschuldigen Sie. Es ist nur…«Ich grinste. »Ich habe fast den Eindruck, ich könnte Ihnen so gefallen, wie ich bin.«
»Nur nicht übertreiben, Tanner. Vor zwei Stunden haben Sie mich noch mit einer Waffe bedroht. Wenn eine Beziehung so anfängt, geht es meistens schief.«
»Normalerweise wäre ich ganz Ihrer Meinung. Aber zufällig hatten auch Sie mich mit einer Waffe bedroht, und die war um einiges größer als die meine.«
»Hmm, mag sein.« Das klang nicht überzeugt. »Aber wenn wir die Sache fortsetzen wollen – was immer Sie darunter verstehen –, sollten Sie jetzt anfangen, sich etwas ausführlicher über die dunklen Geheimnisse Ihrer Vergangenheit zu äußern. Auch wenn das eine oder andere darunter ist, das ich nicht unbedingt erfahren soll.«
»Oh, von dieser Sorte gibt es genug, glauben Sie mir.«
»Dann ans Licht damit. Bis wir in meiner Wohnung sind, möchte ich wissen, warum Sie diesen Mann töten wollten. Und wenn ich Sie wäre, würde ich mir große Mühe geben, mich zu überzeugen, dass er den Tod verdient – wer immer er auch sein mag. Sonst sinken Sie womöglich noch in meiner Achtung.«
Die Gondel schaukelte heftig, aber das fand ich inzwischen nicht mehr ganz so unangenehm.
»Er muss sterben«, sagte ich. »Obwohl ich nicht sagen kann, dass er ein schlechter Mensch wäre. Ich hätte an seiner Stelle genau so gehandelt.« Nur wäre ich professioneller vorgegangen, dachte ich. Und ich hätte hinterher niemanden am Leben gelassen.
»Hm, das ist kein guter Anfang, Tanner. Aber fahren Sie bitte fort.«
Ich erwog, Chanterelle eine bereinigte Fassung meiner Geschichte vorzulegen – doch dann wurde mir klar, dass es keine bereinigte Fassung gab. Also erzählte ich ihr von meiner Soldatenzeit und erklärte, wie ich in Cahuellas Dunstkreis geraten war. Ich sagte, Cahuella sei ein mächtiger und grausamer, aber kein wirklich schlechter Mensch, denn er wisse auch, was Vertrauen und Loyalität sei. Es falle nicht schwer, ihn zu respektieren, und man hätte auch den Wunsch, sich seinen Respekt zu verdienen. Vermutlich trug die Beziehung zwischen Cahuella und mir sehr primitive Züge: er war ein Mann, bei dem alles von erster Güte sein musste – seine Wohnung; die Waffen und Geräte in seiner Sammlung; seine Sexualpartnerinnen wie etwa Gitta. Auch bei seinen Angestellten war ihm das Beste gerade gut genug. Ich hielt mich für einen tüchtigen Soldaten, Leibwächter, Gefolgsmann, Krieger und Killer; die Etiketten waren austauschbar. Aber nur Cahuella bot mir einen absoluten Maßstab, nach dem ich mein Können beurteilen konnte.
»Ein übler Bursche, aber kein Unmensch?«, fragte Chanterelle. »Und das war für Sie Grund genug, für ihn zu arbeiten?«
»Er hat auch gut bezahlt«, sagte ich.
»Geldgieriger Bastard.«
»Auch das war nicht alles. Ich war wertvoll für ihn, weil ich Erfahrung hatte. Er war nicht bereit, diesen Schatz aufs Spiel zu setzen, indem er mich sinnlos in Gefahr brachte. Deshalb war ich weitgehend in beratender Funktion für ihn tätig – ich brauchte nur selten eine Waffe zu tragen. Dafür hatten wir richtige Leibwächter; jüngere, körperlich fittere, dümmere Ausgaben von mir.«
»Und wo kommt der Mann ins Spiel, den Sie im Escher-Turm gesehen haben?«
»Sein Name ist Argent Reivich«, sagte ich. »Er lebte früher auf Sky’s Edge. Der Name Reivich ist dort alteingeführt.«
»Auch im Baldachin hat die Familie eine lange Tradition.«
»Das überrascht mich nicht. Wenn Reivich hier bereits Verbindungen hatte, erklärt das, warum er so schnell Aufnahme in den Baldachin fand, während ich noch im Mulch durch die Pfützen watete.«
»Nicht so hastig. Was hat Reivich hierher geführt? Und was wollen Sie hier?«
Ich erzählte ihr, wie Cahuellas Waffen in die falschen Hände gefallen waren, und wie diese Hände damit Reivichs Familie ausgerottet hatten. Wie Reivich die Waffen zu meinem Arbeitgeber zurückverfolgt und sich entschlossen hatte, sich an ihm zu rächen.
»Finden Sie das nicht sehr ehrenwert von ihm?«
»Deshalb bin ich ihm auch nicht böse«, sagte ich. »Nur hätte ich an seiner
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