Chasm City
bereit, daran zu glauben.
»Sie wollten sich Methusalem ansehen«, sagte Chanterelle und zeigte auf das große Becken hinter dem Metallgitter. »Jetzt haben Sie die Gelegenheit.«
»Methusalem?«
»Sie werden schon sehen.«
Ich drängte mich durch die Menge, die um das Becken herum stand. Eigentlich brauchte ich mich nicht weiter anzustrengen. Die Menschen machten mir Platz, bevor ich auch nur Blickkontakt aufnehmen konnte, und rümpften ebenso angewidert die Nase wie der Meistermischer. Ich konnte sie gut verstehen.
»Methusalem ist ein Fisch«, sagte Chanterelle und trat mit mir vor das rauchgrüne Glas. »Ein sehr großer und sehr alter Fisch. Der älteste überhaupt.«
»Wie alt?«
»Genau weiß das niemand, aber er geht mindestens auf die Amerikano-Ära zurück. Damit ist er um einiges älter als jeder andere lebende Organismus auf diesem Planeten, einige Bakterienkulturen eventuell ausgenommen.«
Der riesig aufgeschwollene, unsagbar alte Koi-Karpfen hing im Becken wie eine Seekuh, die sich sonnte. Sein Auge, so groß wie ein Teller, beobachtete uns ohne jeden Ausdruck. Man stand wie vor einem blinden Spiegel, auf dem weißliche Trübungen schwammen wie Inseln auf einem schiefergrauem Meer. Die hellen Schuppen hatten die Farbe fast völlig verloren, und der unförmige Körper war übersät mit krebsartigen Wucherungen und hässlichen Löchern. Die Kiemen öffneten und schlossen sich so langsam, als würde der Fisch nur von den Strömungen im Becken bewegt.
»Wieso ist Methusalem nicht gestorben wie die anderen Koi?«
»Vielleicht hat man sein Herz saniert oder ihm andere Herzen eingesetzt, eventuell sogar ein mechanisches. Vielleicht braucht er es auch nur nicht allzu sehr zu strapazieren. So viel ich weiß, ist es da drin sehr kalt. Die Wassertemperatur liegt nahe dem Gefrierpunkt, deshalb hat man ihm etwas ins Blut getan, um es flüssig zu halten. Sein Stoffwechsel ist so weit verlangsamt wie nur möglich, ohne vollends zum Stillstand zu kommen.« Chanterelle berührte das vor Kälte beschlagene Glas. Ihre Finger hinterließen Spuren. »Aber man verehrt ihn sehr. Die Alten vergöttern ihn geradezu. Sie glauben, wenn sie mit ihm in Verbindung treten – indem sie das Glas berühren –, sichern sie ihre eigene Langlebigkeit.«
»Glauben Sie das auch, Chanterelle?«
Sie nickte. »Früher schon, Tanner. Aber wie alles andere ist auch das eine Phase, über die man mit der Zeit hinauswächst.«
Ich starrte wieder in das Spiegelauge und fragte mich, was Methusalem in all den Jahren wohl gesehen haben mochte, und ob sein Gedächtnis, so weit bei einem aufgeschwollenen alten Fisch davon die Rede sein konnte, irgendetwas davon bewahrt hatte. Irgendwo hatte ich gelesen, Goldfische hätten ein besonders kurzes Erinnerungsvermögen und seien unfähig, einen Eindruck länger als ein paar Sekunden lang zu behalten.
Ich hatte für diesen Tag genug von Augen; selbst von den geistlosen Glotzaugen eines unsterblichen und hoch verehrten Zierkarpfens. So wanderte mein Blick in das flirrende flaschengrüne Halbdunkel unter der schlaffen Wölbung von Methusalems Unterkiefer. Auf der anderen Seite des Beckens drängten sich etwa ein Dutzend Gesichter gegen das Glas.
Und da sah ich Reivich…
Es konnte nicht sein, aber da stand er tatsächlich: fast genau gegenüber von mir auf der anderen Seite. Eine fast überirdische Ruhe lag auf seinem Gesicht, er schien völlig vertieft in die Betrachtung des uralten Tieres. Methusalem bewegte – unbeschreiblich träge – eine Flosse und verursachte damit einen Wirbel, der Reivichs Gesicht verschwimmen ließ. Ich sagte mir vor, wenn sich das Wasser wieder beruhigte, würde ich einen Einheimischen sehen, der lediglich die gleiche genetische Ausstattung für ein nichtssagend gut aussehendes Aristokratengesicht mitbekommen hatte wie Reivich.
Doch als die Wellen sich legten, sah ich immer noch Reivich.
Er hatte mich nicht bemerkt; obwohl wir einander gegenüber standen, hatten sich unsere Blicke noch nicht gekreuzt. Ich schlug die Augen nieder, beobachtete ihn aber weiterhin unter den Lidern hervor, während ich in meiner Tasche nach der Eisschrot-Pistole tastete. Ich war fast erschrocken, als meine Finger sie fanden. Ich klappte den Sicherungsbügel herunter.
Reivich reagierte immer noch nicht.
Er war ganz nahe. Obwohl ich mich Chanterelle gegenüber anders geäußert hatte, war ich ziemlich sicher, ihm eine Kugel durch den Leib jagen zu können, ohne die Pistole aus der
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