Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chasm City

Chasm City

Titel: Chasm City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
Vom Netzwerk:
– kriechenden Tieren. Aber von den Menschen, denen ich vertraute, hatte keiner je ein solches Tier gesehen. Also nur Märchen – sonst nichts.
    Nur Märchen.
    Aber ich wusste immer noch nicht, wo ich war. Das Licht, das ich vorhin gesehen hatte, war verschwunden. Vielleicht wurde es von Bäumen verborgen… vielleicht hatte ich es mir auch nur eingebildet. Ich schaute mich um. Es war sehr dunkel, und alles sah gleich aus. Über mir verdunkelte sich der Himmel – 61 Cygni-B, nach dem Schwan gewöhnlich der hellste Stern am Himmel, war unter den Horizont gesunken – bald würde sich der Dschungel nahtlos mit der Schwärze des Himmels verbinden.
    Vielleicht musste ich hier sterben.
    Doch dann glaubte ich, weit vor mir eine Bewegung zu erkennen, eine verschwommene Gestalt. Zuerst dachte ich, der Lichtfleck wäre wieder aufgetaucht. Doch die Gestalt war viel näher – sie kam auf mich zu. Es war ein Mann, nun trat er aus dem Unterholz. Und er leuchtete wie von innen heraus.
    Ich lächelte. Jetzt erkannte ich ihn. Wovor hatte ich mich eigentlich gefürchtet? Ich hätte doch wissen müssen, dass ich nie wirklich allein war; dass mein Führer immer da sein würde, um mir den Weg zu zeigen.
    »Du hast doch nicht etwa geglaubt, ich würde dich vergessen?«, fragte Clown. »Nun komm schon. Es ist nicht mehr weit.«
 
    Clown führte mich.
    Ich hatte mir das Licht nicht eingebildet, jedenfalls nicht ausschließlich. Vor mir leuchtete tatsächlich ein heller Schein gespenstisch durch den Nebel. Meine Verbündeten…
    Als ich sie erreichte, war Clown nicht mehr bei mir. Er war verschwunden wie ein Nachbild auf der Netzhaut. Ich hatte ihn zum letzten Mal gesehen – aber er hatte gut daran getan, mich hierher zu bringen. Er war der einzige Freund meines Lebens gewesen, der Einzige, dem ich wahrhaft vertraute, obwohl ich wusste, dass er nur eine Ausgeburt meiner Phantasie war, eine Projektion meines Unterbewusstseins, entstanden aus der Erinnerung an den imaginären Beschützer aus meinem Kinderzimmer auf der Santiago.
    Doch was machte das schon?
    »Captain Haussmann!«, riefen meine Freunde durch die Bäume. »Sie haben es geschafft! Wir dachten schon, die anderen hätten Sie nicht…«
    »Oh, sie haben ihre Aufgabe gut erfüllt«, sagte ich. »Wahrscheinlich hat man sie inzwischen verhaftet – oder gar bereits erschossen.«
    »Das ist ja das Merkwürdige. Wir hören ständig Berichte von Festnahmen – aber es heißt, man hätte auch Sie wieder eingefangen.«
    »Das kann ja wohl nicht sein, oder?«
    Aber ich dachte: O doch! – wenn nämlich der Mann, den man eingefangen hatte, nur so aussah wie ich; und wenn dieser Mann deshalb so aussah wie ich, weil unter der geschmeidigen Haut seines Gesichts zwanzig zusätzliche Muskeln saßen, die es ihm ermöglichten, so gut wie jeden Menschen zu imitieren. Er würde auch so sprechen und sich so benehmen wie ich, denn darauf war er Jahre lang konditioniert worden; ich hatte ihm beigebracht, mich für seinen Gott zu halten; sein einziger Lebensinhalt war, mir bedingungslos zu gehorchen. Und der fehlende Arm? Nun, das war ein todsicheres Kennzeichen, nicht wahr? Der Mann, den man verhaftet hatte, sah nicht nur aus wie Sky Haussmann, er hatte auch nur einen Arm.
    Niemand konnte an meiner Festnahme zweifeln. Beim anschließenden Gerichtsverfahren würde der Gefangene vielleicht etwas wirre Reden führen – aber was konnte man von einem Achtzigjährigen schon erwarten? Wahrscheinlich wurde er allmählich senil. Das Beste wäre, ein Exempel zu statuieren; ein möglichst öffentliches Spektakel, das niemand so schnell vergessen würde, auch wenn es – oder vielmehr weil es – unmenschlich war. Eine Kreuzigung könnte allen Ansprüchen genügen.
    »Hierher, bitte.«
    Im Lichtkreis wartete ein Fahrzeug, ein Landrover mit Raupenketten. Ich wurde hinein verfrachtet, und dann rasten wir über die Dschungelpiste. Stundenlang ging es durch die Nacht, immer weiter und weiter weg von jeglicher Zivilisation.
    Irgendwann erreichten wir eine große Lichtung.
    »Hier ist es also?«, fragte ich.
    Alle nickten. Der Plan war mir inzwischen natürlich bekannt. Die Stimmung war jetzt gegen mich. Es war keine Zeit für Helden – sie wurden neuerdings in Kriegsverbrecher umbenannt. Meine Verbündeten hatten mich bis jetzt beschützt, aber meine Verhaftung hatten sie nicht verhindern können. Ich musste froh sein, dass es ihnen gelungen war, mich aus dem provisorischen Gefängnis in Nueva Iquique zu

Weitere Kostenlose Bücher