Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chasm City

Chasm City

Titel: Chasm City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
Vom Netzwerk:
an Bord, und bisher konnten wir erst ein Viertel davon aufwärmen. Aber an sich hat es ja auch keine allzu große Eile. Wenn jemand bereit ist, fünfzehn Jahre im Weltall zu verbringen, kommt es am Anfang oder am Ende auf ein paar Wochen mehr oder weniger auch nicht mehr an.«
    Ich hatte seltsamerweise das Gefühl, dringend etwas erledigen zu müssen, aber ich konnte nicht festmachen, was es war. Ich kam mir vor, als wäre ich aus einem Traum erwacht, von dem ich kaum etwas behalten hatte, der mich aber dennoch stundenlang verfolgte.
    »Dann erzählen Sie mir, was Sie über Tanner Mirabel wissen.«
    »Leider sehr viel weniger, als uns lieb wäre. Doch das allein braucht Sie nicht zu beunruhigen. Auf Ihrer Welt herrscht Krieg, Tanner – und das schon seit Jahrhunderten. Das Chaos in den Unterlagen dürfte kaum geringer sein als hier bei uns, und den Ultras ist es ziemlich egal, wen sie befördern, so lange die Bezahlung stimmt.«
    Der Name passte mir wie ein alter Handschuh. Eine gute Kombination. Tanner war ein Arbeitername, hart und sachlich; jemand, der zupacken konnte. Mirabel hatte dagegen einen leicht aristokratischen Beiklang.
    Ein Name, mit dem man leben konnte.
    »Warum sind denn die Unterlagen hier so durcheinander? Sagen Sie jetzt nicht, hier wäre ebenfalls der Krieg ausgebrochen.«
    »Nein«, sagte Amelia vorsichtig. »Nein; es war etwas ganz anderes. Wirklich ganz anders. Aber warum fragen Sie? Das klang eben geradezu erfreut.«
    »Vielleicht war ich früher Soldat«, sagte ich.
    »Und nachdem Sie unvorstellbare Gräueltaten verübt hatten, sind Sie mit der Kriegskasse geflohen?«
    »Sehe ich so aus, als ob ich dazu fähig wäre?«
    Sie lächelte, aber sie fand die Frage offensichtlich gar nicht komisch. »Sie würden nicht glauben, Tanner, was für Leute hier schon durchgekommen sind. Sie könnten alles Mögliche sein, und niemand würde es Ihnen ansehen.« Sie holte kurz Luft. »Warten Sie. Im Haus gibt es keinen Spiegel, nicht wahr?
    Haben Sie sich schon einmal angesehen, seit Sie aufgewacht sind?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Dann folgen Sie mir. Ein kleiner Spaziergang wird Ihnen gut tun.«
 
    Wir verließen die Hütte und schlenderten gemächlich den Pfad ins Tal hinab. Amelias Roboter raste vor uns her wie ein aufgeregtes Hündchen. Sie ging mit der Maschine ganz unbefangen um, aber ich fand das Ding ähnlich einschüchternd, als wäre sie mit einer Giftschlange herumgelaufen. Mir fiel wieder ein, wie ich reagiert hatte, als der Robot zum ersten Mal auftauchte. Dieser unwillkürliche Griff nach einer Waffe war nicht nur Theater gewesen, sondern fühlte sich an wie lange geübt. Fast spürte ich das Gewicht der nicht vorhandenen Pistole, den Griff, der sich in meine Hand schmiegte, und ein ganzes Raster von ballistischen Kenntnissen dicht unter der Bewusstseinsschwelle.
    Ich verstand etwas von Waffen, und ich mochte keine Roboter.
    »Erzählen Sie mir mehr von meiner Ankunft«, bat ich Amelia.
    »Wie gesagt, das Schiff, das Sie hierher brachte, hieß Orvieto«, begann sie. »Es hält sich natürlich noch im System auf, denn es wurde noch nicht völlig entladen. Wenn Sie wollen, kann ich es Ihnen zeigen.«
    »Sagten Sie nicht etwas von einem Spiegel?«
    »Wir schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe, Tanner.«
    Der Pfad wurde steiler und wand sich in eine dunkle, von einem Baldachin aus wirrem Grünzeug überschattete Schlucht hinab. Das musste das kleine Tal sein, das ich von der Hütte aus gesehen hatte.
    Amelia hatte Recht: nachdem ich bis hierher Jahre unterwegs gewesen war, konnte ich mir ruhig ein paar Tage Zeit lassen, um mein Gedächtnis wiederzufinden. Aber ich hatte einfach keine Geduld, um zu warten. Seit ich aufgewacht war, verfolgte mich das Gefühl, ich hätte irgendetwas zu tun, und es sei so dringend, dass ein paar Stunden über Erfolg oder Scheitern entscheiden könnten.
    »Wo bringen Sie mich hin?«, fragte ich.
    »An einen geheimen Ort. Eigentlich dürfte ich Sie gar nicht mitnehmen, aber ich kann nicht widerstehen. Sie werden mich doch nicht verraten?«
    »Jetzt haben Sie mich neugierig gemacht.«
    Durch die schattige Schlucht gelangten wir auf den Grund des Tales und an den Punkt, der in maximaler Entfernung von der Achse des Hotels Amnesie lag. An der Linie, wo die beiden Kegel des Habitats mit der Grundfläche aneinander stießen, war die Schwerkraft am höchsten. Der vermehrte Kraftaufwand bei jedem Schritt war deutlich zu spüren.
    Amelias Roboter blieb vor uns stehen,

Weitere Kostenlose Bücher