Chasm City
überhaupt mit den Ultras verhandelt zu haben. Aber so schlimm ist es bei Ihnen wohl nicht?«
»Nein«, gab ich zu. »Und das hebt meine Stimmung ganz gewaltig.«
»Was hebt Ihre Stimmung?«
»Zu wissen, dass es immer irgendeinen armen Teufel gibt, der noch schlimmer dran ist als ich.«
»Hmm«, sagte sie. Es klang missbilligend. »Ich glaube nicht, dass das so ganz die richtige Einstellung ist, Tanner. Andererseits dauert es sicher nicht lange, und sie sind vollkommen wiederhergestellt. Im Handumdrehen, Sie werden sehen. Und jetzt gehen Sie bitte ins Haus zurück, ja? Sie werden dort ein paar passende Kleidungsstücke finden. Nicht dass wir hier im Hospiz besonders prüde wären, aber wenn Sie weiter nackt herumlaufen, holen Sie sich noch den Tod.«
»Es war nicht meine Absicht, glauben Sie mir.«
Ich fragte mich, wie sie meine Chancen für eine schnelle Genesung wohl eingeschätzt hätte, wenn sie wüsste, dass ich fluchtartig das Haus verlassen hatte, weil mir ein Teil der Architektur einen heillosen Schrecken einjagte.
»Natürlich nicht«, sagte sie. »Aber probieren Sie die Kleider doch bitte an – wenn Sie Ihnen nicht gefallen, können wir sie jederzeit ändern. Ich komme in Kürze vorbei und sehe nach Ihnen.«
»Danke. Wer sind Sie überhaupt?«
»Ich? Ich bin leider nichts Besonders. Man könnte sagen, ein kleines Rädchen in einer riesengroßen Maschine. Ich heiße Schwester Amelia.«
Ich hatte mich also nicht verhört, sie hatte vom ›Hospiz‹ gesprochen. »Und wo sind wir hier, Schwester Amelia?«
»Ach, das ist ganz einfach. Sie sind im Hospiz Idlewild in der Obhut des Heiligen Eisbettelordens. Manchmal nennt man uns auch Hotel Amnesie.«
Es klingelte immer noch nicht. Das Hotel Amnesie war mir ebenso unbekannt wie der offizielle Name – und auch vom Heiligen Eisbettelorden hatte ich noch nie gehört.
Ich kehrte in die Hütte zurück. Der Roboter folgte mir in diskretem Abstand. Vor der Haustür wurde ich langsamer. So albern es war, draußen im Freien waren meine Ängste verflogen, doch jetzt kehrten sie fast mit gleicher Stärke zurück. Ich sah mir die Nische an. Sie war wie mit Bosheit getränkt; als ob darin etwas lauerte, zusammengerollt, und mich voller Heimtücke beobachtete.
»Zieh dich rasch an und verschwinde von hier«, sagte ich laut auf Castellano zu mir selbst. »Wenn diese Amelia kommt, sagst du ihr, du brauchst so was wie eine neurologische Untersuchung. Das wird sie schon verstehen. Dergleichen passiert hier doch jeden Tag.«
Die Kleider lagen in dem Schränkchen. Ich sah sie mir an. Sie waren mir völlig unbekannt. Von Luxus keine Spur. Der Schnitt war schlicht, irgendwie wirkten sie handgemacht: ein schwarzer Pullover mit V-Ausschnitt, weite Hosen ohne Taschen, ein Paar weicher Schuhe, in denen man höchstens ein paar Schritte auf der Lichtung herumschlendern konnte. Alles passte wie angegossen, doch selbst das berührte mich merkwürdig, als wäre ich daran nicht gewöhnt.
Ich durchsuchte den Schrank noch weiter, in der Hoffnung, etwas von meiner persönlichen Habe zu finden, aber bis auf die Kleider war er leer. Ratlos setzte ich mich aufs Bett und starrte mürrisch die raue Wand an, bis mein Blick über die kleine Nische glitt. Nach Jahren im Kälteschlaf hatte mein Gehirn offenbar Mühe, sein chemisches Gleichgewicht wiederzufinden, und so durfte ich nun am eigenen Leibe erfahren, wie sich psychotische Ängste anfühlten. Am liebsten hätte ich mich einfach zusammengerollt und alle Sinne vor der Welt verschlossen. Was mich davor bewahrte, vollends den Verstand zu verlieren, war die innere Gewissheit, dass ich mich schon in schlimmeren Situationen befunden, dass ich Gefahren erlebt hatte, die sicher nicht weniger beängstigend waren als alles, was mein gestörtes Bewusstsein mit einer leeren Nische verbinden konnte. Trotzdem war ich noch am Leben. Beispiele wollten mir im Moment zwar nicht einfallen, aber das spielte keine große Rolle. Mir genügte zu wissen, dass die Vorfälle stattgefunden hatten, und dass ich, wenn ich jetzt versagte, einen verschütteten Teil meiner selbst verriete, der ganz und gar normal war und sich möglicherweise daran erinnern konnte.
Amelia ließ nicht lange auf sich warten.
Sie war erhitzt und so außer Atem, als wäre sie im Laufschritt das Tal oder die Schlucht heraufgekommen, die ich nach dem Aufwachen gesehen hatte. Aber sie lächelte. Die Bewegung hatte ihr offensichtlich gut getan. Sie trug ein schwarzes Nonnengewand mit
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