Chasm City
konnte ihr Gesicht nur undeutlich erkennen. »Sie sind nicht der Einzige, mit dem ich hier herunter komme, Tanner. Aber ich vertraue Ihnen tatsächlich, obwohl ich nicht sagen könnte, warum. Es hat kaum etwas damit zu tun, dass Sie ein Held sind. Ich halte Sie einfach für einen gütigen Menschen. Sie strahlen so viel Ruhe aus.«
»Das tun Psychopathen angeblich auch.«
»Vielen Dank für diese Perle der Weisheit.«
»Verzeihung. Von jetzt an halte ich den Mund.« Schweigend gingen wir weiter, doch schon nach wenigen Minuten mündete der Tunnel in eine große Höhle mit künstlich geglättetem Boden. Ich setzte vorsichtig den Fuß auf die glänzende Fläche und schaute hinab. Der Boden bestand aus Glas, und darunter bewegte sich etwas.
Sterne. Und Planeten.
Bei jeder Umdrehung kam eine wunderschöne bräunlich-gelbe Welt in Sicht, die von einem sehr viel kleineren rötlichen Mond begleitet wurde. Jetzt wusste ich, woher das periodisch aufleuchtende Licht stammte.
»Das ist Yellowstone«, sagte Amelia und deutete auf die größere Welt. »Sehen Sie den Mond mit der langen Kraterkette? Das ist Marcos Auge, benannt nach Marco Ferris, dem Mann, der den ›Abgrund‹ auf Yellowstone entdeckte.«
Etwas bewog mich, auf die Knie zu gehen, um besser sehen zu können.
»Dann sind wir ja ganz nahe an Yellowstone?«
»Ja. Wir befinden uns an dem Lagrangepunkt hinter dem Planeten und seinem Mond, also an dem schwerkraftneutralen Punkt sechzig Grad hinter Marcos Auge auf dessen Orbit. Dort parken die meisten großen Schiffe.« Sie hielt kurz inne. »Sehen Sie; da sind sie schon.«
Blitzend wie edelsteinbesetzte Zierdolche kam ein ganzer Schwarm von Raumschiffen in Sicht. Jedes Schiff hatte eine Hülle aus Diamant und Eis und war so groß wie eine Stadt – drei bis vier Kilometer lang. Doch in dieser Menge und aus dieser Entfernung wirkten sie so winzig wie tropische Fische. Sie drängten sich um ein Habitat, an dessen Äquator wie die Stacheln eines Seeigels viele kleinere Schiffe hingen. Das gesamte Konglomerat musste zwei- bis dreihundert Kilometer entfernt sein und wurde mit der nächsten Drehung des Karussells bereits wieder aus dem Blickfeld getragen. Amelia hatte gerade noch Zeit, mir das Schiff zu zeigen, das mich hergebracht hatte.
»Da, ganz am Rand des parkenden Schwarms, das ist die Orvieto, glaube ich.«
Ich stellte mir vor, wie das Schiff fast fünfzehn Jahre lang knapp unter Lichtgeschwindigkeit von Sky’s Edge durch die Leere des interstellaren Raumes raste, und für einen Moment spürte ich die unermessliche Entfernung, die ich, subjektiv in einem kurzen, traumlosen Schlaf gefangen, zurückgelegt hatte, ganz deutlich in meinen Eingeweiden.
»Jetzt gibt es kein Zurück mehr, nicht wahr?«, fragte ich. »Ich könnte gar nicht mehr nach Hause fliegen, selbst wenn eins von diesen Schiffen Kurs auf Sky’s Edge nähme und ich genügend Geld für eine Passage hätte. Ich wäre ein Held aus der Zeit vor dreißig Jahren – wahrscheinlich längst vergessen. Womöglich hätte mich seither sogar irgendein Nachgeborener zum Kriegsverbrecher gestempelt und angeordnet, mich sofort nach dem Aufwachen hinzurichten.«
Amelia nickte nachdenklich. »Es ist wahr, die meisten Menschen kehren nie wieder nach Hause zurück. Selbst wenn dort kein Krieg tobt, hätte sich zu viel verändert. Aber sie finden sich fast alle schon vor der Abreise damit ab.«
»Wollen Sie damit sagen, ich hätte das nicht getan?«
»Ich weiß nicht, Tanner. Sie sind auf jeden Fall anders als die anderen.« Ihre Stimme veränderte sich. »Da, sehen Sie! Da ist einer von den abgestreiften Rümpfen.«
»Wie bitte?«
Ich folgte ihrem Blick. Was ich sah, war ein hohler Kegel, der mir so groß erschien wie eins der Schiffe im parkenden Schwarm. Das war freilich nur eine Schätzung. Amelia sagte: »Ich weiß nicht viel über diese Schiffe, Tanner, aber in mancher Hinsicht sind sie fast lebendig – sie verändern sich und entwickeln im Lauf der Zeit von sich aus immer neue Verbesserungen, sodass sie niemals veralten. Manchmal beschränkt sich die Umgestaltung nur auf das Innere, aber sie kann sich auch auf die gesamte Form eines Schiffes auswirken – um es zum Beispiel zu vergrößern. Oder windschnittiger zu machen, damit es näher an die Lichtgeschwindigkeit herankommt. In diesem Fall ist es für das Schiff gewöhnlich billiger, den alten Diamantpanzer einfach abzuwerfen, anstatt ihn herunterzureißen und Stück für Stück wieder anzubringen.
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