Chasm City
sich einfach ein leichteres Ziel suchen.«
Sie dachte eine Weile nach. Wahrscheinlich bedauerte sie jede Frau, die die gleichen Erfahrungen machten musste wie sie. »Ich weiß, dass wir so etwas nicht sagen sollten, aber ich hasse diesen Mann. Können wir diese Griffe morgen noch einmal üben?«
»Natürlich. Ich bestehe sogar darauf. Sie sind immer noch zu schwach – obwohl Sie schon große Fortschritte gemacht haben.«
»Danke. Tanner – darf ich fragen, woher Sie das so gut können?«
Ich dachte an den Umschlag mit den Dokumenten. »Ich war Fachmann für Personenschutz.«
»Und?«
Ich lächelte wehmütig. Wie viel mochte sie vom Inhalt dieses Umschlags gesehen haben? »Und manches andere.«
»Mir hat man gesagt, Sie wären Soldat.«
»Ja; das war ich wohl auch einmal. Aber schließlich hatte auf Sky’s Edge so gut wie jeder in irgendeiner Form mit dem Krieg zu tun. Man konnte sich nicht so ohne Weiteres heraushalten. Wer nicht mit zur Lösung beitrug, galt als Teil des Problems. Wer sich nicht in den Dienst der einen Seite stellte, galt automatisch als Sympathisant der anderen.« Das war natürlich eine stark vereinfachte Darstellung, die nicht berücksichtigte, dass sich reiche Aristokraten die Neutralität von der Stange kaufen konnten wie neue Kleider – aber für den weniger betuchten Durchschnittsbürger auf der Halbinsel entsprach sie ziemlich genau der Wahrheit.
»Sie haben Ihr Gedächtnis weitgehend wiedergefunden.«
»Die Erinnerung kehrt allmählich zurück. Die Beschäftigung mit meinen persönlichen Sachen war mir eine große Hilfe.«
Sie nickte mir aufmunternd zu, und mir schlug das Gewissen, weil ich sie belog. Die Bilder hatten sehr viel mehr getan, als nur mein Gedächtnis aufzufrischen, doch ich wollte den Anschein einer partiellen Amnesie vorerst noch aufrecht erhalten. Amelia war hoffentlich nicht so gewitzt, dass sie mein Spiel durchschaute, trotzdem würde ich mich bei meinen künftigen Plänen hüten, den Eisbettelorden zu unterschätzen.
Ich war tatsächlich Soldat gewesen. Aber der Flut von Pässen und Ausweisen in dem Umschlag war zu entnehmen, dass sich meine Fähigkeiten keineswegs darin erschöpften. Der Soldatenberuf war nur der Kern, um den herum sich meine anderen Begabungen entwickelt hatten. Noch überblickte ich nicht meinen gesamten Werdegang in völliger Klarheit, aber ich wusste schon sehr viel mehr am Tag zuvor.
Ich war in eine Aristokratenfamilie hineingeboren worden, die sich am unteren Ende der Vermögensskala bewegte: wir waren nicht direkt arm, hatten aber zu kämpfen, um die Fassade von Wohlstand aufrecht zu erhalten. Wir hatten in Nueva Iquique gelebt, an der Südostküste der Halbinsel. Eine verschlafene Stadt, hinter einem schwer zugänglichen Gebirgszug vom Krieg abgeschirmt, die selbst in den Jahren der erbittertsten Kämpfe teilnahmslos dahinvegetierte. Oft fuhren Schiffe aus dem Norden die Küste herunter und liefen Nueva Iquique an, ohne einen Angriff befürchten zu müssen, obwohl wir theoretisch Feinde waren. Mischehen zwischen Angehörigen verschiedener Linien der Flottille waren keine Seltenheit. Ich lernte die Hybridsprache des Feindes fast ebenso fließend lesen wie unsere eigene, und es mutete mich seltsam an, dass unsere Anführer uns aufstachelten, diese Menschen zu hassen. Selbst in den Geschichtsbüchern stand doch, dass wir Verbündete gewesen waren, als die Schiffe den Merkur-Orbit verließen.
Doch seither war viel geschehen.
Als ich älter wurde, ging ich allmählich dazu über, alle Angehörigen der Nord-Koalition als Feinde zu betrachten, ohne deshalb ihre Gene oder ihren Glauben abzulehnen. Sie hatten, genau wie wir, ein gerütteltes Maß an Gräueltaten begangen. Doch wenn ich den Feind auch nicht verabscheute, so hielt ich es doch für meine moralische Pflicht, den Krieg so rasch wie möglich zu beenden, indem ich unserer Seite zum Sieg verhalf. Deshalb meldete ich mich im Alter von einundzwanzig Jahren zur Süd-Miliz. Ich war nicht zum Soldaten geboren, aber ich lernte schnell. Das war auch nötig; besonders, wenn man nur wenige Wochen, nachdem man erstmals ein Gewehr in Händen hielt, an die Front geschickt wurde. Ich entwickelte mich zu einem guten Schützen. Später wurde ich mit entsprechender Ausbildung ein wahrer Meister auf diesem Gebiet – und es war ein großer Glücksfall für mich, dass meine Einheit einen Scharfschützen brauchte.
Ich erinnerte mich an meinen ersten Abschuss – es war eigentlich eine
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