Chasm City
einen Hinterhalt. Wir wurden von Guerillas eines Kommandotrupps der NK überfallen, und binnen weniger Minuten lernte ich, was unter dem euphemistischen Begriff Nahkampf tatsächlich zu verstehen war. Keine Teilchenstrahlwaffen mit Zielfernrohr; keine Nanomunition mit Explosionsverzögerung. Einem Soldaten vor tausend Jahren wäre das alles viel vertrauter gewesen: ein Haufen schreiender, tobender Menschen, so dicht zusammengedrängt, dass scharfe Metallwaffen, Dolche oder Bajonette, das einzig wirksame Mittel waren, sich gegenseitig umzubringen. Man konnte sich auch gegenseitig die Hände um die Kehle legen oder mit den Fingern die Augen ausquetschen. Wer hier überleben wollte, musste alle höheren Hirnfunktionen ausschalten und geistig wieder zum Tier werden.
Und das wurde ich. Und dabei erkannte ich eine tiefere Wahrheit über den Krieg. Er bestrafte alle, die mit ihm kokettierten, indem er sie zu dem machte, was er selbst war. Wer der Bestie einmal die Tür geöffnet hatte, konnte sie nicht mehr schließen.
Wenn es die Situation verlangte, erwies ich mich auch weiterhin als guter Schütze, aber ich war kein reiner Heckenschütze mehr. Ich behauptete, ich hätte den ›Biss‹ verloren; ich sei für die besonders kritischen Abschüsse nicht mehr geeignet. Die Lüge war plausibel: Heckenschützen waren heillos abergläubisch, und viele entwickelten eine psychosomatische Blockade und waren dann nicht mehr zu gebrauchen. Ich durchlief verschiedene Einheiten und ließ mich zu Einsätzen abkommandieren, die mich immer näher an die Front führten. Im Umgang mit Waffen erreichte ich eine Stufe, die weit über bloße Treffsicherheit hinaus ging; ich entwickelte die leichte Hand eines hoch begabten Musikers, der jedes Instrument zum Klingen bringen konnte. Oft meldete ich mich freiwillig zu Kommandounternehmen, bei denen ich mich wochenlang hinter den feindlichen Linien aufhalten und von genau bemessenen Feldrationen ernähren musste. (Die Biosphäre von Sky’s Edge war oberflächlich betrachtet erdähnlich – aber auf der Ebene der Zellchemie vollkommen inkompatibel; es gab kaum einheimische Pflanzen, die wir gefahrlos essen konnten, entweder war der Nährwert gleich Null, oder sie lösten tödliche anaphylaktische Reaktionen aus.) In diesen langen Phasen der Einsamkeit ließ ich das Tier in mir wieder zum Vorschein kommen, ich wurde zum primitiven Wilden, einem Wesen von nahezu unerschöpflicher Geduld und Leidensfähigkeit.
Als Einzelkämpfer erhielt ich meine Befehle nicht mehr auf dem üblichen Dienstweg, sondern aus geheimnisvollen Quellen der Miliz-Hierarchie, wohin sie nicht zurückzuverfolgen waren. Die Aufträge wurden immer seltsamer, ihre Ziele immer unbegreiflicher. Waren es anfangs noch naheliegende Objekte NK-Offiziere der mittleren Ränge –, so schienen die Opfer bald nur noch willkürlich ausgewählt, doch ich stellte nie infrage, dass hinter allem eine gewisse Logik stand; eine heimtückische und präzise geplante Strategie. Selbst wenn ich, wie es mehr als einmal vorkam, Personen ins Visier nehmen musste, die die gleiche Uniform trugen wie ich, ging ich davon aus, dass es sich um Spione oder potenzielle Verräter oder – die Erklärung, die am schwersten zu verdauen war – einfach um loyale Männer handelte, die sterben mussten, weil sie auf irgendeine Weise das unergründliche Walten des Großen Planes behinderten.
Bald kümmerte es mich nicht einmal mehr, ob meine Handlungen irgendeinem höheren Zweck dienten. Ich nahm auch keine Befehle mehr entgegen, sondern suchte mir meine Aufträge selbst – ich trennte mich von der militärischen Hierarchie und arbeitete für jeden, der mich bezahlte. Ich war kein Soldat mehr, ich wurde zum Söldner.
Und so lernte ich Cahuella kennen.
»Ich bin Schwester Duscha«, sagte die ältere der beiden Eisbettlernonnen, eine hagere Frau mit strenger Miene. »Sie haben vielleicht schon von mir gehört; ich bin die Neurologin hier am Hospiz. Und ich muss Ihnen leider mitteilen, Tanner Mirabel, dass wir bei Ihnen eine schwere Bewusstseinsstörung festgestellt haben.«
Duscha und Amelia standen in der Tür der Hütte. Ich hatte Amelia erst eine halbe Stunde zuvor mitgeteilt, dass ich vorhätte, Idlewild noch am gleichen Tag zu verlassen. Jetzt sah sie mich betreten an. »Es tut mir Leid, Tanner, aber ich musste es ihr sagen.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Schwester«, sagte Duscha und drängte sich energisch an ihrer Untergebenen vorbei. »Ob es
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